Das blaue Mädchen
»Trotzdem mag ich den Rollerjungen. Auch wenn er vielleicht Tiere isst.«
Den Rollerjungen. Jana wurde rot.
»Darfst du gar nicht!«
»Sollen Kinder des Mondes aber, alle Leute lieb haben. Hast du selber gesagt.«
Das musste Indra erst einmal verdauen. Nachdenklich biss sie in ihr Brötchen. Quark blieb ihr in den Mundwinkeln hängen. Sie leckte ihn auf.
»Ich habe Lust, einen Spaziergang zu machen«, sagte Jana, bevor der Schlagabtausch die zweite Runde erreichen würde. »Wer kommt mit?«
»Ich habe heute Küchendienst«, sagte Indra traurig. Auch die Kleinen mussten helfen. Es sollte ihren Gemeinschaftssinn schärfen. Die anderen wollten lieber spielen und so gingen Jana und Miri nach dem Frühstück allein los.
Miri schob ihre kleine, vom Saft der Weintrauben klebrige Hand in Janas Hand. »Ich versuch ja, Indra lieb zu haben, aber das ist so schwer.«
»Das weiß ich. Denk jetzt nicht mehr daran.«
»Dich hab ich ganz doll lieb, noch viel lieber als La Lune.«
»Ich dich auch.«
»Gehen wir in den Wald?«
Jana nickte. Sie beide liebten den Wald. Dort waren sie ungestört. Sie konnten Verstecken spielen, Tannenzapfen sammeln und Vogelstimmen erraten. Sie konnten rennen, lachen und albern sein, ohne dass jemand sie zurechtwies. Sie konnten sein, wie sie wollten. Im Wald war das möglich.
Miri sah in ihrem langen Gewand wie ein kleiner Engel aus. Sie ließ Janas Hand los und lief voraus, die Arme ausgebreitet. Der Engel verwandelte sich in einen kleinen orangefarbenen Vogel, der seinen Käfig für eine Weile verlassen durfte.
»Komm, Jana! Komm!«
Ihre Stimme kletterte an den Bäumen empor.
Warum kann es nicht immer so sein, dachte Jana. Und sie lief hinter Miri her.
Marlon wachte mit schwerem Kopf auf. Er hatte sich später am Abend doch noch von Marsilio überreden lassen und war auf Bier umgestiegen. In der Nacht hatten sie zuerst Tim, der kaum noch stehen konnte, nach Hause gebracht. Dann waren sie zu ihren Rollern zurückgekehrt und laut singend über die finstere Landstraße gefahren. Marsilio war schließlich an einem Feldweg abgebogen und Marlon hatte den Rest des Wegs allein und ohne Lieder zurückgelegt.
Als er den Roller im Schuppen abgestellt hatte und über den Hof gegangen war, hatte es angefangen zu regnen. Marlon wäre gern noch ein wenig durch den Regen gelaufen, aber seine Füße hatten ihm kaum noch gehorcht. Im Haus war er dann über den Hund gestolpert, der vor der Tür gelegen hatte, und seine Mutter war aus der Wohnstube gekommen.
»Mama, was machst du hier?«
»Ich habe auf dich gewartet.«
»Ich bin siebzehn, Mama!«
Sie hatte ihn mit sanftem Druck zur Treppe geschoben. »Geh jetzt ins Bett und schlaf deinen Rausch aus.«
»Rausch? Was für einen Rausch? Denkst du, ich wär betrunken?«
»Das denke ich nicht, ich sehe es.«
Er hatte sich zu ihr umgedreht. »Du behandelst mich wie einen kleinen Jungen, Mama.«
»Meinst du wirklich, ein paar Biere machen dich erwachsen?«
Sie reichte ihm nur bis zur Schulter. Ihr Gesicht war vor Müdigkeit ganz weich. Marlon fühlte auf einmal eine große Zärtlichkeit für sie. Er zog sie an sich. »Meine Gedanken sind irgendwie durcheinander. Einen Streit halte ich im Augenblick nicht aus.«
Sie strich ihm übers Haar und fasste ihn am Arm. Zusammen stiegen sie die Treppe hinauf. Oben ließ die Mutter ihn los und öffnete die knarrende Tür zur Schlafstube.
Tür ölen, nahm Marlon sich vor. Er tastete sich durch sein dunkles Zimmer, ließ sich auf das Bett fallen, seufzte und schlief ein.
Als er wach wurde, hämmerte es in seinem Schädel und er stellte fest, dass er nicht nur die Kleider angelassen hatte, sondern auch noch die Schuhe trug. Er war verschwitzt und fühlte sich schmutzig.
Fast wäre er in einem fremden Bett aufgewacht. Das Mädchen hatte ihm erzählt, ihre Eltern seien über Nacht nicht zu Hause. Sie seien zu einer Hochzeit in den Hunsrück gefahren und würden bis zum nächsten Abend dort bleiben. Eigentlich hatte Marlon es nur Tim zu verdanken, dass er nicht mit ihr gegangen war.
»Zuerst muss ich meinen Freund nach Hause bringen«, hatte er gesagt.
Das hatte sie so verärgert, dass sie mit einer Freundin losgezogen war.
Marlon versuchte, sich zu erinnern. Sie hatten getanzt. Getrunken. Gelacht. Und dann hatte sie ihn geküsst. Sie hatte gut gerochen und sich gut angefühlt. Seine Hände hatten sich in ihrem seidigen Haar vergraben. Über ihre Schulter hinweg hatte er in Marsilios grinsendes Gesicht
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