Das blaue Mädchen
fotografieren. Er arbeitete gern mit Licht und Schatten und das Wetter war heute wie geschaffen dafür.
Es war fast windstill, was zwischen den Feldern selten vorkam.
Marlon fotografierte die knorrigen Obstbäume, die entlang der Straße standen, behangen mit kleinen Äpfeln und Zwetschgen, die von niemandem geerntet werden würden, allenfalls von Urlaubern, die hier ab und zu Rast machten.
Alle Bäume waren sturmverbogen und stark nach links geneigt. Sie kamen Marlon vor wie die Alten im Dorf, die von einem Leben harter körperlicher Arbeit schief und krumm geworden waren.
Er hörte nichts als seine Schritte. Ab und zu spritzte ein kleiner Stein unter seinen Schuhen weg. Die Hitze legte sich schwer auf ihn. Die Blätter der Bäume fingen bereits an, sich zu verfärben. Nicht mehr lange und der Herbst würde da sein. Man konnte ihn schon in der Luft schmecken. Aber noch war das Licht gelb und weich.
Bald hatte Marlon den Wald erreicht und tauchte in seinen kühlen Schatten ein. Über ihm flirrte das Licht in den Baumkronen. Marlon machte einige Aufnahmen, von denen er wusste, dass sie gut werden würden. Nur wer sich von den Farben berauschen ließ, konnte sie auch mit der Kamera einfangen, behauptete Stauffer. Marlon machte sich über so etwas keine Gedanken. Alles, was er mit der Kamera anstellte, geschah wie von selbst.
Er war auf dem Weg zu der kleinen Lichtung, als er das Lachen und die Stimmen hörte.
Und dann sah er sie.
Verstecken war Miris Lieblingsspiel. Vielleicht, dachte Jana, weil die Kinder des Mondes kaum einen Augenblick, keinen Winkel für sich allein haben. Miri gab sich immer große Mühe, ein Versteck zu finden, aber wenn man sie dann nicht sofort entdeckte, kam sie schreiend daraus hervorgerannt.
Diesmal hockte sie hinter einem Baumstamm, nur halb verdeckt. »Hier bin ich!«
Jana tat so, als suche sie angestrengt. Sie schob die Zweige von Sträuchern auseinander. »Ich kann sie einfach nicht finden«, sagte sie laut.
»Hier! Hier!« Miri rannte kreischend auf sie zu. Am Saum ihres Gewands hingen Tannennadeln. Ein trockenes Buchenblatt hatte sich in ihrem Haar verfangen.
Jana fing sie auf und wirbelte sie herum. Dann warfen sie sich lachend ins Gras.
»Warum können wir nicht im Wald wohnen?«, fragte Miri. »Nur du und ich. Und Mara.«
Es gab Jana einen kleinen Stich. »Weil wir keine Waldmenschen sind.« Sie kitzelte Miri hinter dem Ohr.
»Wir wohnen ja auch nicht auf dem Mond.« Miri schob ihre Hand weg. »Auch wenn wir Kinder des Mondes sind.«
Ihre Logik war so verblüffend, dass Jana sie für einen Moment anstarrte.
»Guck nicht so«, sagte Miri. »Guck wieder lieb.«
»Du hast Recht.« Jana streifte die Schuhe ab und bewegte die nackten Füße im Gras. »Ich würde auch gern im Wald wohnen.«
Sie schwiegen eine Weile und hörten den Vögeln zu.
»Ist Mara böse?«, fragte Miri dann.
Jana schüttelte den Kopf.
»Und warum ist sie im Strafhaus?«
Jana riss einen Grashalm ab und drehte ihn zwischen den Fingern.
»Sag nicht, dass ich das nicht verstehe.«
»Ich verstehe es selbst nicht, Miri.«
»Aber du bist groß. Große verstehen alles.«
»Nein. Tun sie nicht. Hier innen drin«, Jana legte die Hand auf die Brust, »bin ich manchmal noch genauso klein wie du.«
»Indra sagt, Mara hat was ganz Schlimmes gemacht.«
»Sie hat gegen ein Gesetz verstoßen.«
»Gegen was für eins?«
In diesem Augenblick hörten sie ein Geräusch. Jana drehte sich um. Am Rand der Lichtung stand der Junge. Er hielt eine Kamera in den Händen und sah ungläubig zu ihnen herüber.
»Komm«, sagte Jana leise. Sie warf den Grashalm weg und zog die Schuhe an.
Doch da war Miri bereits aufgesprungen und lief dem Jungen entgegen.
Schon wieder ein Mondtag, an dem Mara nicht angemessen gekleidet war. Sie konnte sich daran erinnern, dass sie ihr Gewand getragen hatte, als sie ins Strafhaus gebracht worden war, aber sie wusste nicht mehr, wann sie es ihr weggenommen und ihr stattdessen Hose und Bluse gegeben hatten.
Sie machten sie damit endgültig zu einer Ausgestoßenen, die unwürdig war, der Mondheit ihren Respekt zu erweisen.
Dass Mondtag war, hatte Mara am Läuten der Kirchenglocken erkannt. Sie hatte den Kopf gehoben und gelauscht und sich für ein paar Minuten weniger einsam gefühlt. Dann war die Stille zurückgekehrt.
Mara hatte sich auf das Bett gesetzt und die Augen geschlossen. Es hatte keinen Sinn, sich gegen die Stille zu wehren. Es gelang ihr zwar, sie für kurze Zeit zu
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