Das blaue Mädchen
spiegelndem Marmorboden. Durch die hohen, schmalen Fenster blickte sie auf den rückwärtigen Teil des Gartens. Zwei der weiß verputzten Wände waren mit Landschaftsbildern bemalt, die an Renoir erinnerten und ihr das Gefühl gaben, sie könne alles hinter sich lassen und still in ihnen davongehen.
Die Mitte des Raums wurde von einem langen Tisch aus Pinienholz eingenommen, an dem zwölf Stühle mit reich geschnitzten Rückenlehnen standen. Seltene Pflanzen in Tonkübeln warfen unbewegte Schatten auf den Boden. Hoch oben wölbte sich eine mächtige gläserne Kuppel.
Kinder des Mondes streben nach Vervollkommnung des Geistes. Materielle Güter haben für sie keine Bedeutung.
Verwirrt betrachtete Mara den silbernen Kerzenleuchter auf dem Tisch. Die beiden silbernen Obstschalen, bis zum Rand gefüllt mit exotischen Früchten. Das funkelnde Kristall der Lampen, die wie Perlenschnüre von der Kuppel zu fließen schienen.
Alle Kinder des Mondes sind gleich. Es gibt keine Armut und keinen Reichtum. Sie leben in der Fülle der Gedanken.
Entlang der Fensterfront war ein Wasserbecken in den Boden eingelassen. Mara ging langsam darauf zu und sah, dass Goldfische darin schwammen.
Die Kinder des Mondes leben in Freundschaft mit den Tieren. Sie respektieren ihre Bedürfnisse und achten ihre Würde.
Würde, dachte Mara. Bedürfnisse. Haben diese armen Fische darum gebeten, dem flachen Wasserbecken ein wenig Farbe zu geben?
Geld, Macht und Luxus sind der Tod einer jeden menschlichen Gemeinschaft.
Maras Verwirrung wuchs. Vielleicht war das hier nur ein Traum. Vielleicht würde sie gleich wach werden, sich die Augen reiben und versuchen, ihn schnell zu vergessen. Weil er einen Hang zu verbotenen Wünschen verriet, eine verborgene Sehnsucht nach Überfluss.
Sie hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich wie ertappt um.
Da stand La Lune und die Goldfäden in ihrem Gewand glänzten wie die Leiber der Fische.
»Mara, mein Kind«, sagte sie. »Setzen wir uns und reden.«
Schon an der Tür wurde Jana von Miri und Indra empfangen. Das Kinderhaus hatte eine eigene kleine Bibliothek, die ab und zu durchgesehen werden musste. Gertrud überließ diese Aufgabe immer Jana, weil sie wusste, wie gern sie ins Kinderhaus ging.
»Jana!« Miri blieb vor Jana stehen, ohne sie zu berühren. Sie begriff allmählich, welche Gefühle sie zeigen durfte und welche nicht. »Hast du neue Bücher mitgebracht oder tust du die alten nur nachgucken?«
»Beides, Miri.«
Die Tür zu einem der Gruppenräume stand einen Spaltbreit offen. Jana hörte im Vorbeigehen Tanja mit ihrer schönen, klaren Stimme vorlesen. Tanja war die jüngste der Kinderfrauen. Die Kinder hingen an ihr wie die Kletten.
»Wollt ihr nicht lieber weiter zuhören?«, fragte Jana.
Miri schüttelte den Kopf. »Die Geschichte vom Regenwurm mag ich nicht.«
»Ich wohl«, sagte Indra. »Das ist meine Lieblingsgeschichte. Ich hab sie schon ganz oft selber gelesen.«
»Kannst du ja gar nicht.«
»Kann ich wohl.«
»Aber nur, weil du sie auswendig kennst«, sagte Miri und machte die Tür zur Bibliothek auf.
»Möchtet ihr die Tasche auspacken?«, fragte Jana, bevor die beiden sich in einen handfesten Streit verwickeln konnten.
Eifrig machten sie sich an die Arbeit. Jana nutzte die Ruhe, um die Bücher in den Regalen zu inspizieren. Als sie sich nach Miri und Indra umsah, stellte sie fest, dass sie sich auf den Boden gelegt hatten und in den neuen Bilderbüchern blätterten.
Nebenan begannen die Kinder zu singen.
»Mond, Mond, Mond,
der hoch am Himmel thront,
schenke uns dein Silberlicht,
oh Mondenschein, verlass uns nicht.«
Jana lächelte. Wie feierlich ihr früher zu Mute gewesen war, wenn sie dieses Lied gesungen hatte. Sie summte mit.
»Mond, Mond, Mond,
der hoch am Himmel thront,
bist bei uns in der Nacht,
gibst gütig auf uns Acht.«
Damals war die Welt noch geordnet gewesen. Alles hatte seinen Platz gehabt, unverrückbar, das Gute und das Schlechte. Jetzt waren die Dinge in Bewegung geraten. Als wäre Jana beim Schwimmen von einem Strudel erfasst worden. Sie hatte die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo oben war und wo unten.
Sie fand zwei Bücher, deren Umschläge beschädigt waren, holte Folie, Schere und Klebeband aus der Tasche, ging zu einem kleinen Tisch und setzte sich auf den Kinderstuhl, der davor stand.
Jedes Mal, wenn sie im Kinderhaus war, fühlte sie sich wie Gulliver in Lilliput. Sämtliche Einrichtungsgegenstände waren auf die
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