Das blaue Mädchen
die letzte Reihe, ganz außen, auf den Platz, der am meisten im Dunkel lag.
Sie hatte La Lune zugehört, die von den Pflichten der Kinder des Mondes geredet hatte, von der Gemeinschaft und der Verantwortung, die jeder Einzelne der Gemeinschaft gegenüber habe. Sie hatte sich das alles angehört und dazu geschwiegen. Kein Wort von Reue war über ihre Lippen gekommen. Sie hatte ihre Strafe verbüßt. Zu mehr war sie nicht bereit. Keine Lügen mehr, kein Vortäuschen von Wahrheiten, die nicht ihre eigenen waren.
La Lune hatte gemerkt, dass sie an eine Grenze gestoßen war und dass Mara ihr nicht erlaubte, sie zu überschreiten. Ihr Lächeln war zu etwas ganz Mechanischem geworden und das hatte es hart aussehen lassen und wie aufgemalt.
»Ich werde für dich und Timon andere Partner auswählen«, hatte sie schließlich gesagt. »Die Mondheit hat mir ein Zeichen gegeben.«
Ihre Rache. Selbstsüchtig, klein und gemein.
Keinen Moment hatte Mara an ein Zeichen der Mondheit geglaubt. Ihr Bild von La Lune war endgültig in sich zusammengefallen.
Jetzt war sie frei. Nichts verband sie mehr mit den Kindern des Mondes und ihren Idealen, an die sie als Kind so unerschütterlich geglaubt und an denen sie später, als die ersten Zweifel in ihr wach wurden, immer noch hartnäckig festgehalten hatte.
Später hatte La Lune ihr Lächeln wieder gefunden. Aber Mara hatte es ihr nicht mehr abgekauft.
Ruhig saß sie da, sah auf das flackernde Licht der Kerzen und wartete.
»Mach Schluss für heute«, sagte Gertrud. »Mit dem Rest werde ich allein fertig.«
Jana hatte gerade damit anfangen wollen, die zurückgebrachten Bücher wieder einzusortieren.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte sie. »Du arbeitest sowieso zu viel. Manchmal denke ich, du würdest am liebsten ganz in die Bibliothek ziehen. Vielleicht warst du in einem früheren Leben einmal ein Buch?«
»Eins mit sieben Siegeln.« Gertrud schmunzelte. »Aber du hast Recht. Ich brauche eigentlich nicht viel mehr als meine Bücher, um... hoppla!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Habe ich
meine
gesagt?«
»Natürlich sind es deine. Weil du sie besser kennst als irgendjemand sonst.«
»Lass das La Lune nicht hören. Hast du vergessen, dass Kinder des Mondes nichts besitzen dürfen?«
»Nicht mal Wissen?«
»Nicht einmal das.«
Gertrud nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Sie hatte neulich gelesen, man solle die Augen nicht zu sehr verwöhnen und sie dann und wann ein wenig trainieren. Ohne Brille sahen ihre Augen groß und verloren aus und als wären sie maßlos erstaunt über das Leben.
»Aber wie sonst kann die Welt verändert werden, wenn nicht durch Wissen?«, fragte Jana.
Gertrud blinzelte sie kurzsichtig an. »Glaubst du tatsächlich, La Lune ist an Veränderung interessiert?« Sie griff nach einem Kugelschreiber und kaute darauf herum. Das tat sie immer, wenn Unterhaltungen eine kritische Phase erreichten. »Was ist die Welt für dich, Jana?«
Jana hob die Hände und zog einen ungefähren Halbkreis durch die Luft. »Wir. Die Menschen draußen. Die Tiere. Die Pflanzen... alles. Du stellst wirklich komische Fragen.«
»Und was bedeutet die Welt für La Lune?«
»Dasselbe natürlich. Ich meine, sie spricht zwar von der
eigentlichen
Welt, der Welt der Kinder des Mondes, aber...«
»Nein!« Gertrud nahm den Kugelschreiber aus dem Mund. »Nein! La Lunes Welt existiert nur in ihrem Kopf. In ihrem Kopf, Jana! Und wenn sie von dieser Welt spricht, dann spricht sie von einem Hirngespinst, das nur durch eines veränderbar ist: durch ihren eigenen Willen.«
»Und das Wissen?« Janas Blick glitt über die langen Reihen von Büchern.
»Kann La Lune nichts anhaben, solange sie davon überzeugt ist, alles kontrollieren zu können.«
»Und wenn sie das nicht mehr ist?«
»Sollte sie nur ein einziges Mal auf ernsthaften Widerstand stoßen und ihn mit den Büchern in Verbindung bringen, dann ist das hier alles nur noch Papier und sie wird es verbrennen.«
Jana starrte Gertrud entsetzt an.
Seufzend setzte Gertrud sich die Brille wieder auf die Nase. »Entschuldige. Es war nicht richtig, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Und nun geh. Wir können ein anderes Mal weiterreden.«
»Aber...«
»Das ist schon in Ordnung, Jana.«
An der Tür drehte Jana sich noch einmal um. Gertrud saß an ihrem voll gepackten Schreibtisch und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Sie kam Jana vor wie eine weise Frau, die aus einem vergangenen Jahrhundert
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