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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Feth
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übrig geblieben war.
    Was würde La Lune mit ihr anstellen, wenn sie erst begriff, wie gefährlich ihr diese Mischung aus Weisheit und Wahrhaftigkeit werden konnte?

    Die Spritze wirkte. Alle paar Meter hob der Hund das Bein. Marlon ging langsam, blieb immer ein Stück hinter ihm zurück.
    Die Sonne wurde schwächer, der Wind kühler. Die ersten Blätter trudelten über die Straße und sammelten sich am Rand.
    Marlon erinnerte sich daran, dass sein Großvater einmal mit ihm einen Herbstdrachen gebaut hatte. Er hatte ihm beigebracht, den Wind einzuschätzen und den Drachen sicher zu führen, und dann, eines Tages, war Marlon allein mit dem Drachen aufs Feld gegangen.
    Der Drachen war steil aufgestiegen und hatte im Wind getanzt und heftig an der Schnur gezerrt. Und da hatte Marlon losgelassen. Er hatte dem Drachen nachgesehen, der sich höher und höher schwang und schließlich davontrieb.
    Damals hatte er begriffen, was Freiheit bedeutet.
    Dem Großvater hatte er erzählt, der Drachen habe sich losgerissen, aber in Wirklichkeit hatte er ihm die Freiheit gegeben.
    Der Hund war dabei gewesen. Er hatte sich immer in Marlons Nähe aufgehalten, eine Kindheit lang. Wie hatte Marlon das für selbstverständlich nehmen und sogar vergessen können?
    Ein krankes Herz, dachte er, ist kein Todesurteil. Ein krankes Herz kann man schonen. Es hätte schlimmer kommen können.
    Erleichtert sog er die frische Waldluft ein. Heute würde Jana da sein. Er wusste es ganz bestimmt.

    Die schwere Holztür öffnete sich knarrend und ein kalter Luftzug wehte herein. Mara drehte sich nicht um.
    Sie hörte zögernde Schritte, die innehielten und dann auf sie zukamen.
    Maras Herz schlug schneller. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet.
    Timon setzte sich neben sie, aber noch berührten sie sich nicht.
    Die Kirche war für Timon kein vertrauter Ort. Mara musste ihm Zeit lassen.
    »Siehst du den Mann da vorn am Kreuz?«, flüsterte sie. »Das ist ihr Gott.«
    »Ein toter Gott.« Timon zog die Schultern zusammen.
    »Ein auferstandener«, sagte Mara. »Ich glaube, das heißt so viel wie wieder geboren.«
    »Und die Frau in der Nische, vor der die vielen Kerzen stehen?«
    »Das ist Maria, seine Mutter. Der Pfarrer sagt, sie ist keine Göttin. Aber die Leute beten trotzdem zu ihr.«
    Timon sah zum Mosaik der Fenster hinauf, auf dem die letzten Sonnenstrahlen spielten. Dann kehrte sein Blick zu Maria zurück.
    »Ihr Gewand ist blau«, sagte er. »Genau wie deins.«
    Mit einer raschen Bewegung zog er Mara an sich und drückte die Lippen auf ihren Mund.

    Es war ein verwilderter Wald mit hohen, alten Bäumen, undurchdringlichen Inseln aus Brennnesseln, weiß getupften Teppichen aus Sauerklee und Tümpeln voller Frösche.
    Jana kannte die Stellen, an denen die Walderdbeeren wuchsen, und sie wusste, wo die Himbeeren am süßesten waren. Hier und da lag ein umgestürzter Baum quer über einem der Wege und aus seiner Rinde sprossen neue, hellgrüne Triebe.
    Dieser Wald war Niemandsland. Dornröschens Reich. Hier konnte man zwischen kräftigen Farnwedeln einschlafen und erst nach hundert Jahren wieder wachgeküsst werden.
    Jana liebte es, hierher zu kommen und allein zu sein.
    Kinder des Mondes sind Wesen der Gemeinschaft. Wahres Glück ist nur innerhalb dieser Gemeinschaft möglich.
    Und weil sie das Alleinsein so liebte, war sie unvollkommen. Sie hatte den Segen der Mondheit nicht verdient.
    Sie tragen ihre Brüder und Schwestern und werden von ihnen getragen.
    »Die Babys sind ganz leicht«, hatte Miri einmal gesagt. »Aber die darf ich nicht tragen.« Sie hatte trotzig die Lippen vorgeschoben. »Und wenn ich die andern Mädchen mal tragen will, dann wehren die sich.«
    Jana hatte ihr erklärt, was La Lune mit dem Tragen meinte.
    »Ach so.« Ein Lächeln war über Miris Gesicht gehuscht. Und sofort wieder verschwunden. »Muss ich dann auch Indra tragen?«
    »Ärgere dich nicht immer so über Indra«, hatte Jana gesagt.
    »Aber wenn die doch zum Ärgern ist?«
    »Indra hat auch ihre guten Seiten, Miri. Das ist bei jedem Menschen so.«
    »Bei Indra nicht.«
    »Vielleicht kann sie es nur nicht zeigen.«
    »Indra hat gesagt, die Mondheit hat sie lieber als mich.«
    »Das stimmt nicht. Die Mondheit hat dich genauso lieb.«
    »Wo ist die Mondheit, Jana?«
    »Überall.«
    »Weil sie zaubern kann?«
    »Die Mondheit kann alles.«
    »Auch Indra verschwinden lassen?«
    Wie sicher Jana ihre Antworten gegeben hatte. Und wie wenig sicher sie inzwischen

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