Das blaue Siegel
hatten sich längst wieder an Bord der Northstar begeben, da das ganze Unternehmen ihnen mit inzwischen sechzehn Stunden schon zu lange dauerte, um ihr Interesse wachzuhalten. Armstrong für seinen Teil hatte auch beschlossen, vor der Obduktion noch ein wenig zu schlafen. Die bereits wieder etwa zweistündige Nacht, eher ein grausames, kaltes Zwielicht, würde sehr bald hereinbrechen. Deshalb gaben die Männer jetzt mit Flaggensignalen zum Schiff hinüber: »Wir haben ihn!«
Als Dr. Armstrong, Dr. Domville, die Kapitäne und der Missionar den Strand von Beechey wieder betraten, war es tatsächlich dunkel geworden. Der Wind wehte jetzt schneidend und blies den groben Sand dicht über den Boden, sodass er den jeweils zwei Männern, die sich in der Grube abmühten, immer wieder schmerzhaft in die Augen drang. Sie arbeiteten inzwischen mit kleineren Eispickeln, um den Sarg freizulegen, und rote Funken sprangen bei jedem Schlag aus dem flachen Grab.
John Gowers hatte das vermodernde Tuch mit seinem Messer Stück für Stück vom Sargdeckel gelöst und war dabei auf eine kupferne Platte gestoßen, die daraufgenagelt war. Sein besonderes Sehvermögen, aber mehr noch seine tastenden Finger verrieten ihm, dass John Hartnells Kameraden darauf dessen Namen, sein Alter, seinen Rang, das Datum und das Wort Erebus eingraviert hatten. Doktor Armstrong aber rief nach Sturmlaternen und einer großen Bahn Segeltuch, um das Grab vom immer stärker heulenden Wind abzuschirmen.
Beides hatte man gerade herangeschafft, als ein Melder vom knapp zwei Meilen weiter südlich gelegenen Northumberland House, der arktischen »Residenz« Sir Edward Belchers, herankam und einen seltsamen Befehl überbrachte: Die Kapitäne Kellett, McClure, McClintock und der Matrose Gowers sofort zum Admiral!
135.
Der Amerikaner lebt und wird kommen! Diese kurze Botschaft hob alle anderen auf, die im Verlauf der letzten Tage eingetroffen waren und denen zufolge Jaysingh von Mirzapur den Amerikaner getötet hatte. Auch dass Jemdanee tot sei und Khurram verhaftet, erzählten die Tauben aus dem Norden, aber das war ja nicht möglich, denn wie sollte man ihre Kinder erkannt haben? Sie glaubte lieber an den Tod ihres geheimnisvollen Feindes, denn sie kannte die Fähigkeiten ihres eigenen Sohnes und wusste, mit welcher Absicht er nach Varanasi gegangen war. Sie glaubte, sie hoffte – bis Jaysingh selbst die bestürzende Nachricht sandte: Der Amerikaner lebt und wird kommen!
In diesem Augenblick wusste sie, dass alles vorbei war. Nur kurz erwog sie zu fliehen, dann gewann ihr königliches Blut die Oberhand, und sie sorgte sich nur noch um das, was die Welt von ihr erfahren würde: der tiefe Sturz ihrer Schande, ihre bittere, scharfe Rache, Charlie Mordaunt und die Geheimnisse des blauen Hauses – sie würde alles vertilgen, was gegen sie sprach. Der Amerikaner sollte nur noch ein großes Grab finden. Als ihr Taubenmeister, ein fünfzehnjähriger Junge mit einem gelähmten Bein, aber einem unglaublichen Geschick im Umgang mit seinen Vögeln, vom Dach meldete, dass ein seltsamer, gedeckter Ochsenkarren auf der Chitpore Road aufgetaucht sei, der dann wenig später auch auf der Rückseite des Hauses gesehen wurde, wusste sie, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Einige der Älteren ahnten wohl, was mit ihnen geschehen sollte, denn sie hatten die Erhabene selbst zu den Kindern, nacheinander in all die flachen Hütten gehen sehen. Aber als sie ihnen sagte, dass die Zeit der Belohnungen nun gekommen sei, erlosch in ihren kleinen geknechteten Seelen der Funke des Aufbegehrens gegen ihr Schicksal, und sie vergaßen den Gedanken, einfach davonzulaufen. Wohin hätten sie auch laufen sollen?
Am großen Becken standen die jungen Leute, vielleicht noch ein Dutzend, und die Erhabene selbst segnete ihre Vereinigungen und reichte ihnen den Becher mit süßem Gift. Es war nicht schlimm, es tat nicht weh. Sie versanken ineinander und hörten irgendwann einfach auf, sich zu bewegen. Die Letzten, die sich erbrochen hatten und von einem überwältigenden Durst gepeinigt ins Wasser krochen, tötete sie selbst. Wie schwach waren die schönen, schlanken Körper zuletzt, wie leicht war es, die zarten Nacken unter Wasser zu drücken!
Allein in dem großen Haus,blieb ihr nur noch wenig zu tun; sie präparierte den Dolch und schrieb ihre letzte Botschaft. Erst dabei fiel ihr auf, dass sie vor einem Problem stand. Ihr Taubenmeister war tot, mit einem glücklichen Lächeln zwischen
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