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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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zu sein. Auf dem Dach waren Schlafzelte aufgebaut, ein sicheres Zeichen dafür, dass hier Einheimische und keine Europäer lebten, und in einer ebenso anachronistischen Holzkonstruktion erkannte der Investigator durch sein Fernrohr einen großen Taubenschlag. Er war am Ziel.
    Das Haus selbst lag etwas zurückgesetzt von der Chitpore Road, hatte aber keinen Garten, keine Auffahrt, keine Freitreppe – nichts, was man von einem englischen Landhaus erwartet hätte. Erst als Gowers auch eine kleine Parallelstraße auf der Rückseite erkundet hatte, erkannte er, dass die hier stehenden Chota-Bungalows , also eigentlich nur niedrige strohgedeckte Hütten, offenbar zum gleichen Areal gehörten. Sie waren in einer sorgfältigen Weise versetzt angeordnet, sodass die Rückseite des blauen Hauses von der Straße aus nicht eingesehen werden konnte. Das ganze Gelände wurde nicht etwa von einer Mauer, sondern nur von einem geradezu rachitischen Zaun aus dünnen Bambusrohren eingegrenzt.
    Die Frontseite und das Untergeschoss des blauen Hauses wirkten seltsam tot, die Fensteröffnungen waren mit heruntergelassenen Bastmatten verhängt, um die Hitze oder die Blicke ungebetener Besucher abzuhalten. Nur auf dem Dach waren hier und da umherhuschende Menschen zu sehen, und das eigentliche Leben schien ohnehin auf der Rückseite, in und zwischen den Bungalows stattzufinden. Gowers sah dort eine große Menge von Kindern, auch einige Jugendliche beiderlei Geschlechts, die diese Kinder betreuten, aber nur eine einzige erwachsene Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, die immer wieder mit Wassereimern von Hütte zu Hütte ging. Irgendwo weiter hinten musste es also einen Brunnen geben, vielleicht sogar einen größeren Hof.
    Er beschloss, von dieser Seite her auf das Areal vorzudringen; nicht nur, weil er nicht wusste, was es vorn für Sicherungsmaßnahmen geben würde und bekannte Risiken den unbekannten immer vorzuziehen sind, sondern auch, weil es vielleicht das letzte Mal war, dass er das Unerwartete tun konnte.
    Die Nacht war mondlos, aber der Himmel sternenklar. Schon in den letzten beiden Wochen war es so heiß gewesen, dass auch die Nächte keine wesentliche Abkühlung in das sumpfige bengalische Tiefland brachten. Die Hitze erneuerte sich also gewissermaßen nicht mehr, sondern waberte abgestanden, alt und schwül auf dem Boden. Der Monsun stand jetzt unmittelbar bevor. Dennoch registrierte Gowers einen schwachen Temperaturunterschied, denn die aufgeheizte Erde trieb ihre Wärme in seine Hosenbeine, als würde er durch warmes Wasser waten, während der Schweiß auf seiner Stirn immerhin noch seine Funktion erfüllte und ihm kühl in die Augen tropfte, wenn er seine verblichene Mütze anhob.
    Sie bewegten sich, so lautlos es zwischen den Bungalows möglich war, und hielten immer wieder an, um in die Runde zu lauschen: Aber da war nichts, gar nichts, nicht einmal der Atem der Schläfer, die hier und da auf dem Hof, neben dem Brunnen auf dem Boden lagen. Das blaue Haus wirkte tintenschwarz, wie ein Loch in der Dunkelheit; nur durch die mit braunen Vorhängen bedeckten, bis zum Boden reichenden Fensteröffnungen eines niedrigen, langgestreckten Gebäudes auf seiner Rückseite drang ein schwaches, fauliges Leuchten.
    Ishrat hob mit der linken Hand einen dieser Vorhänge ein wenig an, den rechten Arm mit dem offenen Schwert hoch erhoben, um jeden dahinter lauernden Feind sofort zu erstechen; aber da war kein Feind. Gowers, den Revolver in der unverletzten, aber auch ungeübten Linken, spähte für einige Sekunden hinein und stellte fest, dass das Licht von einigen flachen Opferschalen herrührte, in denen noch ein wenig Öl brannte. Er sah schwache Lichtreflexe auf einem großen, mit Wasser gefüllten Becken in diesem Badehaus oder was immer es sein mochte – aber auch, dass einige dunkle Körper reglos im Wasser lagen.
    Er brauchte eine Weile, um sich von der Vorstellung zu lösen, dass es Krokodile oder kleine Baumstämme oder einfach nur Gaddis waren, die man hineingeworfen hatte, aber dann bedeutete er Ishrat, den Vorhang wieder herunterzulassen. Mit gerunzelter Stirn und einer Sorglosigkeit, die die Leibwächterin erschreckte, ging der Investigator anschließend über den Hof zu der neben dem Brunnen liegenden Gestalt einer jungen Frau und stieß sie mit seiner Stiefelspitze an; sie rührte sich nicht.
    Die einzelnen Zimmer der Bungalows waren nach außen hin offen, und ohne irgendeine Vorsichtsmaßnahme ging Gowers hinein,

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