Das blaue Siegel
mehrerer kleiner Hütten, dazu Kleiderfetzen, ein Paar liegen gebliebene Handschuhe, eine alte Zeitung vom September 1844 und – drei Gräber. Die rätselhafteste Entdeckung war aber eine Reihe kleiner Pyramiden, sorgfältig aus siebenhundert leeren Konservendosen aufgetürmt, die man mit Kies gefüllt hatte.
Warum man weder dort noch in zwei ebenfalls errichteten Steinhaufen irgendeine schriftliche Nachricht mit den weiteren Plänen der Expedition fand, wie sie niederzulegen ein Admiralitätsbefehl ausdrücklich vorschrieb, sollte für immer ein Rätsel bleiben. Es wurde in diesem Zusammenhang sogar schon früh die Vermutung geäußert, irgendeine Form von geistiger Umnachtung müsse Franklin und seine Offiziere befallen haben, da sie auf diese primitivste aller Sicherheitsmaßnahmen verzichteten.
McClure schauderte bei diesem Gedanken; er hatte einen Winter lang mit zwei Wahnsinnigen zusammenleben müssen und mochte sich nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn nicht zwei, sondern vielleicht zehn, fünfzehn Männer an Bord eines Schiffes tobsüchtig oder debil wurden. Dennoch war es nicht der Ire, sondern sein ehemaliger Schiffsarzt Alexander Armstrong, der irgendwann in diesem Sommer, während man darauf wartete, dass das Eis des Lancaster Sound aufbrach, eine ebenso einfache wie kühne Idee hatte.
Vierzig Expeditionen zu Land und zu Wasser hatten von Franklin nicht mehr gefunden als das, was hier auf Beechey vor ihnen lag. Aber hatte man es genau genug untersucht? Warum nicht, sozusagen als Abschluss all dieser fruchtlosen Bemühungen, diejenigen Mitglieder der unglücklichen Expedition befragen, von denen man sicher wusste, wo sie zu finden waren – nämlich die drei Toten in ihren Gräbern? Sie waren junge Männer gewesen: John Torrington, Heizer an Bord der Terror , zwanzig Jahre alt, John Hartnell, Vollmatrose der Erebus , fünfundzwanzig Jahre, William Braine, Seesoldat auf der Erebus , zweiunddreißig. Armstrong beabsichtigte nicht weniger, als alle drei Gräber zu öffnen und die Toten zu obduzieren.
Sehr behutsam versuchten die Kapitäne, Admiral Belcher diese neue Idee nahezubringen. Belcher war ganz in die Logbücher der aufgegebenen Schiffe vertieft, die die Kommandanten bei ihm hatten abgeben müssen. Er suchte vor allem nach kuriosen Begebenheiten, die er als Glanzpunkte seinem eigenen Journal einverleiben konnte, denn an Bord seiner Assistance war offenbar zwei Jahre lang am wenigsten vorgefallen.
Die Gräber auf Beechey Island hatte er schon mehrfach zeichnen lassen: bei Mondlicht, vor dem düsteren Hintergrund der hundertfünfzig Meter hohen Klippen der Insel und mit einem einsamen Eisberg in der Erebus Bay – den es dort zwar gar nicht gab, der sich aber bei einer etwaigen Veröffentlichung bestimmt prächtig machen würde. Als ihm gemeldet wurde, dass man in den vergangenen Wintern regelmäßig einen riesigen Eisbären gesichtet hätte, der offenbar bei den Gräbern Wache hielt, hatte er auch den noch hinzufügen lassen, auch wenn das Ganze dadurch ein wenig überladen wirkte. Er würde diese Sache zu Hause entscheiden, spontan: Eisberg oder Eisbär, je nachdem, was seiner Frau den größeren Schauer über den Rücken triebe.
Den Vorschlag, diesen geradezu mystischen Ort durch eine Grabschändung zu entweihen, wies er zunächst weit von sich, aber als Charles Richards, sein Commander auf der Assistance und der einzige Offizier, der ihm noch halbwegs ergeben war, bemerkte, wenn dadurch irgendeine neue Erkenntnis gewonnen würde, stünde man in England nicht mit ganz so leeren Händen da, lenkte er ein.
»Also in des Teufels drei Namen«, fluchte der Admiral. »Aber nicht alle: Suchen Sie sich eins aus, und machen Sie’s auf!«
Die Qual der Wahl überließ man Armstrong. Der entschied sich schließlich für John Hartnell, an den sich manche der versammelten zweihundertachtundsiebzig Seeleute noch erinnern konnten: ein gesunder, kräftiger Bursche. An seiner Leiche ließe sich vielleicht am eindeutigsten feststellen, was ihn nach weniger als einem Jahr an Bord der Erebus das Leben gekostet hatte.
133.
Das blaue Haus, Charlie Mordaunts alte Hütte, erwies sich als eine zweigeschossige Villa im Kolonialstil und war kleiner, als Gowers erwartet hatte. Aber vielleicht hatte er auch letzthin zu viel in Palästen zu tun gehabt, um von einer luftigen Veranda in der zweiten Etage und einem von sechs etwas zu üppigen Säulen getragenen Balustradendach übermäßig beeindruckt
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