Das blaue Siegel
beugte sich über das ineinander verschlungene Knäuel kleiner Leiber und lauschte: kein Atem. Die Kinder schliefen nicht, sie waren tot. Er ging zu Ishrat zurück, die auf dem Hof wartete und es noch nicht verstanden hatte.
»Licht!«, sagte er.
134.
Die sorgfältig aufgeschichteten Steinplatten wurden abgenommen und beiseitegelegt, und auch eine oberste Schicht aus leichtem Geröll konnte leicht abgetragen werden. Dann jedoch stießen sie auf den Permafrostboden, hart wie Zement, auf dem die Spitzhacken Funken schlugen wie auf Eisen, ohne dabei mehr abzusprengen als jeweils einige wenige Körnchen von der Größe eines Kieselsteins.
Permafrost, also dauerhaft und seit Ewigkeiten gefrorener Boden, ist eigentlich keine Erde, kein Stein, aber auch nicht einfach nur Eis oder gefrorener Schlamm. Es ist eine verwirrende Materie, deren Eigenschaften widersprüchlich und bis heute nicht völlig erforscht sind. Sie scheint sich durch kristallines Wachstum im Boden auszubreiten und kann eine Tiefe von fünfhundert Metern erreichen. Permafrost aufzugraben ist eine Qual, weil er zwar hart wie Fels ist, aber nur selten in größere Brocken oder Bruchstücke zerspringt. Zentimeter für Zentimeter, immer nur kleine Fetzen preisgebend, vermittelt er eher das Gefühl, langsam in sehr hartes Holz einzudringen.
Die Männer arbeiteten in sehr kurzen Schichten, und keiner von ihnen glaubte, in seiner halben Stunde sonderlich viel erreicht zu haben. Dennoch nahm langsam eine Grube von zweieinhalb Meter Länge und etwa anderthalb Meter Breite Gestalt an. Es waren vorwiegend die Männer der Investigator , die hackten und schaufelten; nicht nur, weil ihr Schiffsarzt diese glorreiche Idee gehabt hatte, sondern weil man ihnen auf diesem Gebiet die größte Erfahrung zuschrieb: Am 22. Mai 1854 hatten sie hier ihren Schiffskameraden Thomas Morgan in sein kaltes Grab gelegt – den letzten Mann der Investigator , der auf einer Reise starb, die ihn um die halbe Erde und noch fünfhundert Meilen über das Eis der Nordwestpassage geführt hatte.
Die Kapitäne aller fünf Schiffe standen dabei und diskutierten leise darüber, was man wohl finden würde. Vielleicht handelte es sich nur um ein Scheingrab, eine bloße Gedächtnisstätte für John Hartnell, so wie man auch für den unglücklichen Bellot eine angelegt hatte. Vielleicht wäre der Sarg aber auch in den vergangenen acht Sommern immer tiefer und tiefer in den Boden eingesunken und überhaupt nicht mehr zu finden.
Für Spekulationen sorgten auch die Bibelverse auf den Kopfbrettern der Gräber, die man anstelle eines Grabsteins ins Geröll gesteckt hatte. Auf Torringtons Grab fand sich keine solche Inschrift, aber Choose ye this day whom you will serve/ Erwählt euch heute, wem ihr dienen wollt hatte man dem Seesoldaten William Braine mit auf seinen langen Weg gegeben und Thus saith the Lord of hosts, consider your ways/So spricht der Herr Zebaoth: Schaut, wie es euch ergeht sagte John Hartnell den vielen müßig und neugierig herumstehenden Matrosen auf seinem Grabstein, den man in Ehren zur Seite gelegt hatte.
Selbst in einer Zeit größerer Religiosität waren das seltsame Verse, düster und hoffnungslos, und die Kapitäne fragten sich, ob diese Männer vielleicht gewaltsam ums Leben gekommen waren. Doktor Armstrong mochte eine solche Möglichkeit nicht in Betracht ziehen; nicht, weil es ihn davor gegraust hätte, einen Erschlagenen zu untersuchen, sondern weil ein Mordopfer oder womöglich sogar ein hingerichteter Mörder so wenig Grundsätzliches über die verschollene Expedition ausgesagt hätte.
Als man das Grab etwas über einen halben Meter tief ausgehoben hatte, begann sich ein eigenartiger Modergeruch auszubreiten, den der allmählich auffrischende Wind jedoch immer wieder zerstreute. Hatte man John Hartnell am Ende nicht in einem Sarg beigesetzt, sondern ihn einfach bloß verscharrt? Bei fünfundachtzig Zentimeter Tiefe stießen die Männer auf blauen Wollstoff, und zumindest dieses Rätsel war gelöst: Es war dieser Stoff, der sich im Permafrostboden langsam zersetzt hatte und den Geruch dieses Prozesses nun endlich in die Welt entlassen konnte. Wenig später zertrümmerten die wuchtigen Schläge der Spitzhacke einen Sargdeckel, der in das blaue Tuch eingeschlagen war. Die Hacke verklemmte sich dabei unter dem Holz und riss ein gutes Stück davon ab, als zwei Mann mit aller Gewalt daran zogen.
Die Offiziere, der Arzt und der größte Teil der Mannschaften
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