Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
drei haben es geschafft, aus Talent und dem elterlichen Drill eine Weltkarriere zu basteln. Ob es sich gelohnt hat, können nur sie selbst entscheiden.
Es ist wichtig zu verstehen, dass ausbeuterische Aufträge oft nicht bewusst gestellt werden. Kein gesunder, liebevoller Elternteil will sein Kind belasten oder überfordern. Wenn aber der Elternteil selbst an einem familiären Auftrag gescheitert ist, besteht die Gefahr, dass er den gleichen oder einen anderen überfordernden Auftrag eine Generation später wiederum an sein Kind stellt. Hier finden wir sie wieder, die mehrgenerationale Weitergabe: Nichterfüllte Aufträge werden über die Generationen hinweg an die Nachkommen übergeben, in der unbewussten Hoffnung, dass sich irgendwann jemand findet, der den Auftrag zur Zufriedenheit erledigt und das familiäre Erwartungskonto auffüllt.
Gibt es eigentlich auch »gute« Aufträge? Aufträge gehören zu unserem Leben dazu. Sie werden in jeder Familie übergeben, weil wir alle Erwartungen und Wünsche an unsere Kinder haben, weil wir alle ein Bewusstes, aber auch ein Unbewusstes haben, was uns leitet und oft genug auch verleitet. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass es passendere und somit bessere Aufträge und unpassendere und somit schwierigere Aufträge gibt. Bessere sind die, die zum Kind passen, die es angemessen fördern. Bessere sind die, die bewusst sind, die das Kind nicht überfordern oder in Konflikte stürzen. Bessere Aufträge sind auch die, die vom Kind zurückgewiesen werden können, ohne dass es negativen Einfluss auf die Eltern-Kind-Beziehung hat. Wenn ein Kind also in seiner Individualität wahrgenommen wird, wenn es genug Raum hat, sich zu entfalten, und selbst bestimmen kann, welchen Auftrag es gerne erfüllen und welchen es lieber ablehnen möchte, dann kann man von einfacheren und sicherlich auch besseren familiären Aufträgen sprechen.
Wenn beispielsweise in einer Familie vor Generationen ein Unrecht begangen wurde und die Nachkommen heute den Auftrag übernommen haben, dieses Unrecht wiedergutzumachen, wenn sie diesen Auftrag bewusst und passend zu ihren Kräften annehmen und ausführen, dann kann der Auftrag für die Nachkommen sinnstiftend und für die gesamte Familie heilsam sein.
Aus der Vielzahl von Aufträgen lässt sich eine Handvoll typischer überfordernder Aufträge herausfiltern. Diese werden in ihren Grundlagen und ihren Auswirkungen in den folgenden Kapiteln erklärt. Vielleicht fallen Ihnen beim Lesen noch ganz andere Aufträge ein, die an Sie herangetragen wurden und die Sie heute noch belasten. Ganz gleich, welchen Inhalt belastende familiäre Aufträge haben, eines haben sie gemeinsam: dass wir gehindert werden, uns frei zu entwickeln und uns altersangemessen von der Familie abzulösen.
Kein Auftrag zu groß? Elterlicher Erwartungsdruck bei Leistung, Bildung und Erfolg
»Natürlich kannst du auch ein Wunderkind werden«, sagte meine Mutter zu mir, als ich neun war. […] Meine Mutter glaubte, dass in Amerika jeder werden konnte, was er wollte. Man konnte ein Restaurant aufmachen. Man konnte ein Haus fast ohne Anzahlung kaufen. Man konnte reich werden. Oder über Nacht berühmt.«
AMY TAN , Töchter des Himmels
Kay sitzt blass vor mir. Seine Hände zittern. Er ist 25 Jahre alt und zum dritten Mal durchs Physikum gefallen. »Was soll ich jetzt bloß machen? Mein ganzes Leben ist vorbei«, sagt er verzweifelt. Seine Freundin hat ihn zu mir geschickt, sie hat Angst, dass er sich etwas antun könnte. »Was soll ich jetzt machen?«, fragt er mich wieder. Wer dreimal durch die Medizinprüfung gefallen ist, darf nicht weiterstudieren. Aus und vorbei, der Traum vom Halbgott in Weiß. Was für ihn das Schlimmste sei, frage ich ihn. Er überlegt eine Weile. »Es meinen Eltern zu sagen.« Kays Eltern sind beide Ärzte. Sein Großvater väterlicherseits war Arzt. Kay kann sich an keinen anderen Plan erinnern, als dass er auch einmal Arzt werden würde. Alle warten darauf, dass Kay irgendwann die Familienpraxis übernimmt. Nun denkt Kay an Selbstmord, er sieht keinen Ausweg. Das Ende seiner medizinischen Laufbahn scheint gleichzeitig das Ende seiner Daseinsberechtigung zu sein.
Was er machen würde, wenn es seiner Familie egal wäre, welchen Beruf er ergreifen würde, wechsle ich abrupt das Thema. Die Frage scheint absurd, es gibt nur einen einzigen Beruf, der für ihn vorgesehen war, und diese Möglichkeit ist nun gestorben. Kay stellt sich in den folgenden Sitzungen
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