Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
wichtig zu differenzieren, wer wie stark wollte, dass Kay Arzt wird, nun geht es um die Zukunft und um das, was Kay für sich selbst will. Medizinische Berufe kommen für ihn nicht mehr infrage: »Wenn ich schon neu anfange, dann richtig!« Er nimmt sich Zeit herauszufinden, was das Richtige für ihn ist. Architektur würde ihn interessieren, ihm liegen räumliches Denken und die Idee, etwas zu erschaffen, aber er hat Angst vor weiteren Prüfungen. Außerdem kann er sich nicht vorstellen, gleich wieder ein neues Studium zu beginnen. Er entscheidet sich, zunächst einmal ein sechsmonatiges Praktikum in einer Tischlerei zu machen. Wir verabschieden uns, Kay hat erreicht, was er wollte, er hat seine Verzweiflung abgelegt, seine Eltern haben ihre Enttäuschung überwunden, und eine Idee, wo es beruflich hingehen soll, hat Kay auch.
Ein Jahr später erhalte ich eine Postkarte. »Mir geht’s gut! Auch ohne weißen Kittel … Ich hab entschieden, Tischler zu werden. Meine Eltern sind nicht 100 % glücklich darüber, Architekt hört sich in ihren Ohren besser an als Tischler, aber sie akzeptieren meine Wahl. Und ich bin in meiner Werkstatt mit dem Holz total happy …«
Kay hat sich ausgesöhnt mit seinem Versagen. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Kay hat rechtzeitig die Kurve bekommen. Dreimal durch die Prüfung zu fallen kann man einerseits verstehen als Ausdruck von Überforderung, andererseits auch als unbewusste Weigerung, den Lebensweg der Eltern fortzusetzen. Und es scheint, als sei Kay in seinem selbst gewählten Beruf sehr viel glücklicher, als er es mit dem familiär vorbestimmten geworden wäre.
Cornelia hat die Kurve nicht bekommen. Sie hat sich nicht rechtzeitig von familiären Aufträgen lösen können und sich immer tiefer in ein gefährliches Geflecht von überfordernden Erwartungen und vorsätzlichen Täuschungen verstrickt. Die Medien berichteten 2007 über Cornelia, die als »falsche Ärztin« einen Skandal ausgelöst hatte: Cornelia hatte, nachdem sie auch beim dritten Versuch durch das Physikum gefallen war, einfach weiterstudiert und sich später mit gefälschten Zeugnissen eine Anstellung als Kinderärztin in einem Hamburger Krankenhaus erschlichen. Niemand ahnte, dass die beliebte und kompetent wirkende Medizinerin formal kein Recht hatte, Patienten zu behandeln. Der Schwindel flog erst auf, als die Ärztekammer wiederholt das Original ihrer Approbationsurkunde verlangte und Cornelia sich so in die Enge getrieben fühlte, dass sie durch eine wahnwitzige Lüge ihr ganzes Kartenhaus zum Einstürzen brachte: Sie erklärte sich selbst im Namen ihrer Schwester für tot. Diese Lüge war eine Lüge zu viel, der Chefarzt des Krankenhauses bat Cornelia zu einem Gespräch, Cornelia beichtete alles und musste sich anschließend wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Missbrauchs von Berufsbezeichnungen vor Gericht verantworten.
Wie lässt sich dieser Fall erklären? Eine junge, intelligente Frau trotzt den Gesetzen der Realität und Legalität und geht unbeirrbar ihren beruflichen Weg. Ist sie verrückt? Größenwahnsinnig? Weder noch. Vor Gericht versucht die Angeklagte später zu erklären, was sie heute selbst nicht mehr verstehen kann. Cornelia wuchs in einer leistungsorientierten Familie auf. »Erfolgreich sein« hieß die Maxime, Versagen war in dieser Familie nicht vorgesehen. Von klein auf stand für Cornelia fest, dass sie einmal Ärztin werden und Menschen heilen würde. Sie fasste diesen Entschluss, als ihr Bruder in der Kindheit an einem schweren Hirntumor erkrankte. Und diesen Plan zog sie durch, selbst nach dem Ausschluss aus dem Medizinstudium. Am Wochenende besuchte sie oft ihre Eltern, und unter der Woche verkörperte sie die kompetente, beliebte Ärztin.
»Ich habe mich verstrickt in das Bild der erfolgreichen Ärztin und mich einer Scheinwelt hingegeben.« Als die Gefahr aufzufliegen immer größer wurde, gab Cornelia sich in ihrer Not als ihre Schwester aus und teilte der Ärztekammer mit, Cornelia sei verstorben. Eine weitere unausgegorene Lüge, eine Verzweiflungstat, aber auch ein Streich des Unbewussten, sich für tot zu erklären, denn gestorben war sie ja tatsächlich ein bisschen, diese Tochter, die alles getan hätte, um den Wünschen der Eltern zu entsprechen, und die nun ertappt worden war.
Warum sie nicht viel früher die Reißleine gezogen und einen neuen Weg eingeschlagen hat, beantwortete Cornelia der Richterin in schlichten Worten: »Ich wollte niemanden
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