Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
und seiner Tochter schleichend. Unbewusst legt er alle Hoffnungen in Mia, überwacht ihre schulischen Leistungen, jeder Ausschlag in den Noten wird mit Anspannung beobachtet und bewertet. Mias Erfolg ist sein Erfolg. Claus und Vera haben die Zukunft ihrer Tochter genau geplant. Abitur, dann ein Studium in England oder auf einer Eliteuniversität in den USA.
Mia möchte die Wünsche ihrer Eltern erfüllen, aber sie hat ein Problem. Der Leistungsdruck macht ihr, einer ohnehin höchstens durchschnittlichen Schülerin, sehr zu schaffen. Der Vater ordnet Nachhilfe an und paukt persönlich mit seiner Tochter, Abend für Abend. Die Beziehung zwischen Tochter und Vater ist angespannt, nach jeder Übungssequenz verschlechtert sie sich. Das eigentliche Problem, nämlich die Leistungsfokussierung der Eltern, wird in dieser Familie abgewandelt zu dem Thema: Mia ist nicht gut organisiert. Wenn sie mehr Struktur hätte, würde sie gute Noten bringen.
Dass die Tochter den Anforderungen des Gymnasiums intellektuell nicht gewachsen ist, davor verschließt die ganze Familie die Augen. Auch Mia will es nicht wahrhaben. Sie fühlt, dass sie für das Wohlergehen ihres Vaters verantwortlich ist. Sie weiß, dass sie ihn glücklich machen würde, wenn sie gute Noten bekäme. Mit den anspruchsvollen Hausaufgaben quält sie sich oft bis tief in die Nacht. Morgens geht sie völlig übermüdet in die Schule und kann dem Unterricht nicht folgen. Ihre Versetzung in die zehnte Klasse ist gefährdet.
Als Mia dem schulischen Druck nicht mehr standhalten kann, sucht die Familie mich auf. In der ersten Sitzung stelle ich fest, dass die Eltern ihre Tochter mit ihren Leistungsansprüchen überfordern. Mia hat sich diese zu eigen gemacht und leidet unter ihren schulischen Defiziten, als ob sie eine schwere Krankheit hätte. Nicht leistungsfähig zu sein ist die alte Wunde des Vaters, und er übergibt sie seiner Tochter, die sie bereitwillig annimmt. Die Mutter, gefangen in ihrem eigenen Leistungskarussell, hat die Verantwortung für ihre Tochter an ihren Mann delegiert. Dass ihre Tochter die Klasse wiederholen muss, ist ein unnötiges Ärgernis für sie. Sie selbst ist schließlich bestes Beispiel: Man kann alles erreichen, wenn man es nur will.
Dieses Mädchen ist Opfer der starken, unerfüllbaren Aufträge seiner Eltern. Die Mutter ist abwesend, der Vater beratungsresistent, beide verneinen ihre eigene Rolle in dem familiären Drama. Mia ist hin- und hergerissen zwischen den Angeboten, die ich ihr in der Therapie mache, nämlich über etwas anderes als die Schule zu sprechen, über ihre innere Befindlichkeit, ihre Sorgen, ihre Ohnmacht, den Wünschen der Eltern nicht entsprechen zu können, und über die Loyalität zu ihren Eltern, die ihr befiehlt, auch in der Sitzung nur ein Thema zuzulassen: wie sie eine bessere, perfekte Schülerin wird.
Nach der Zeugnisvergabe wird die Therapie vom Vater abrupt abgebrochen, weil das persönliche Therapieziel der Eltern nicht erreicht worden war: die Tochter zu einer guten Schülerin zu machen. Leistung ist nach wie vor das Einzige, was zählt, alle anderen Themen dürfen in dieser Familie keine Bedeutung haben. So sehr, wie Mia an die Aufträge des Vaters gebunden ist, so sehr ist dieser noch in seine eigenen verstrickt. Claus versucht noch immer, seinem Vater zu gefallen, unbewusst benutzt er sogar seine Tochter für sein Ziel. Erfolglos, weil er die gleichen Maßstäbe von Leistung und Erfolg wie einst sein eigener Vater anlegt, die seine Tochter ebenso wenig wie er selbst erfüllen kann. Für Mias Eltern ist ihre »leistungsschwache« Tochter eine Kränkung, insbesondere für Claus, weil Mia ein erneuter Beweis für seine Unfähigkeit ist: Nicht mal sein Projekt Tochter läuft wie gewünscht.
Leistungsdruck ist in vielen Familien ein Thema. Man könnte vermuten, dass der familiäre Leistungsdruck an den gesellschaftlichen gekoppelt ist. Die hohen Arbeitslosenzahlen, die verkürzte Gymnasialschulzeit, die relative Aussichtslosigkeit mit Real- und Hauptschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt – dies alles lädt nicht zu Entspannung und Laisser-faire in der schulischen Förderung unserer Kinder ein. Aber auch Nichtabiturienten und Nichtakademiker können in dieser Welt leben und überleben. Sie können sogar glücklich sein! Ohne höhere Schulbildung, ohne große Karriere, ohne Unmengen von Geld. Und dann gibt es ja auch noch die Quereinsteiger, die Lebenskünstler und all diejenigen, die auf verschlungenen
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