Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
ihr erwartet. Oder Tina, für die es selbstverständlich ist, dass ihr Lebensgefährte Marco sie jeden Sonntagnachmittag zu ihren Eltern begleitet. Dass die Sommerferien gemeinsam mit ihren Eltern in dem italienischen Ferienhaus verbracht werden, wo die Familie schon seit 30 Jahren Urlaub macht. Und dass das Paar nach der Hochzeit in das Nachbarhaus von Tinas Eltern zieht. Tinas Eltern sind überall und immer dabei, selbst in Tinas und Marcos Haus gehen sie ein und aus. Es gibt keine Grenzen, und allen scheint es gut zu gehen mit dieser Situation – allen bis auf Marco. Als Marco und Tina ihr erstes Kind bekommen, mischen sich Tinas Eltern konsequent in die Erziehung ein. Marcos Einwände verhallen ungehört. Er fühlt sich überflüssig und ohnmächtig und flüchtet sich in seine Arbeit. Gespräche mit Tina verändern nichts, und als Marco irgendwann auszieht, weil er nicht mehr mit »Tinas ganzer Sippe verheiratet« sein will, hält sich Tinas Kummer in Grenzen, insgeheim ist sie erleichtert, dass die Vorhaltungen über ihre zu enge Beziehung zu ihren Eltern nun ein Ende haben.
Nicht immer ist eine extreme Bindung an die Herkunftsfamilie so einvernehmlich. Und nicht immer werden bindende Aufträge im Verborgenen gestellt. »Kümmere dich um mich, bis ans Ende meiner Tage«, diesen deutlichen Auftrag erhält Tita, die Hauptfigur aus Laura Esquivels Roman Bittersüße Schokolade, von ihrer Mutter Elena. Gemäß dem generationenalten Brauch der Familie muss die jüngste Tochter auf eine eigene Familiengründung verzichten, um die alternde Mutter zu pflegen. Als Tita sich jedoch verliebt, die familiäre Ordnung und ihre Bestimmung hinterfragt und ihrer Mutter zu widersprechen wagt, weist Elena die Tochter scharf zurecht:
»Du hast überhaupt nichts zu meinen, und damit basta! Niemals, seit Generationen, hat jemand in meiner Familie gewagt, seine Stimme gegen dieses ungeschriebene Gesetz zu erheben, und ich werde es nicht dulden, dass ausgerechnet eine meiner Töchter diesen Brauch missachtet!«
Tita fügt sich, aber die starre Rollen- und Auftragsverteilung bringt großes Unglück über die gesamte Familie. Erst als sie seelisch fast zugrunde geht, wagt Tita, das Haus ihrer Mutter zu verlassen und sich eine eigene Existenz aufzubauen. Die quälende innere Verbindung zu ihrer Mutter bricht nicht ab, selbst nach Elenas Tod ist Tita ihr noch ausgeliefert.
Viel später erfährt Tita, dass auch ihre Mutter unter ähnlichen strengen familiären Regeln gelitten hatte. Elena hatte versucht, sich ihren Eltern heimlich zu widersetzen, und wurde grausam bestraft. Anstatt aus dem eigenen Schicksal zu lernen und ihren Töchtern ein freieres Aufwachsen zu ermöglichen, hielt Elena an alten, überkommenen familiären Vorschriften fest und beschnitt ihre Töchter in ihren Lebenswegen, so wie sie einst selbst beschnitten wurde.
Welch furchtbares und dann auch noch übertriebenes Beispiel! So etwas gibt es nur in Romanen, mag man denken. Welcher Elternteil würde seine Kinder in das gleiche Unglück stürzen, das er selbst durchlitten hat? Würde nicht jeder »normale« Mensch versuchen, seinen Kindern ein anderes, ein besseres, ein freieres Leben zu ermöglichen? Schauen Sie sich um. Bei Fremden und Freunden, aber auch vor der eigenen Tür. Es ist nicht so einfach, aus familiären Gesetzen herauszutreten. Gerade wenn diese in der Vergangenheit so viel Kummer und Leid gebracht haben. Wir alle bleiben bis zu unserem Tod die Kinder unserer Eltern, und ganz tief in uns steckt die Sehnsucht nach Versöhnung mit ihnen. Lob, Zustimmung und Anerkennung sind emotionale Güter, die schwer wiegen. Die unbewusste Identifikation mit den machtvollen Elternfiguren führt häufig zu einer nach außen hin absolut unverständlichen Wiederholung von Grausamkeiten.
Mit der eigenen Elternschaft bietet sich die Chance, den Eltern nahezukommen, indem wir uns wie sie verhalten und dementsprechend Zustimmung erhoffen. So wird auch Elena in der Beziehung zu ihrer Tochter ihren Eltern gleich, sie wechselt vom hilflosen Kind in die machtvolle Elternrolle und überwacht die Einhaltung der familiären Regeln bei ihrer Tochter streng, als könnte und müsste Tita die Fehler und Sünden ihrer Mutter wiedergutmachen und Elenas Eltern somit ein für alle Mal besänftigen. Elenas Wut und Rachegelüste, die sie einst ihren Eltern gegenüber hegte, aber unterdrücken musste, verschieben sich auf ihre Kinder. Aus einem kindlichen Opfer wird somit ein erwachsener
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