Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
beruflichen Pfaden zu ihrem Ziel kommen. Die, die Leidenschaft für ihre Tätigkeit haben, das tun, wovon alle ihnen abgeraten haben, weil es ihnen am ehesten entspricht, und die gerade deshalb extrem erfolgreich werden. In jedem Leben geht es letztlich um die eigenen Ziele und den eigenen Weg dorthin.
Diese Weisheiten gehen im Hinblick auf unsere Kinder manchmal verloren. Wir sehen eher das verschenkte Potenzial als das zufriedenstellende Ergebnis. Wir sehen die Zukunft und die Anforderungen der Berufswelt und nicht den kleinen Erfolg/Misserfolg. Wir machen uns eher Sorgen, was passieren könnte, als darauf zu vertrauen, dass sich alles schon irgendwie fügen wird.
Finn ist selbstbewusst, sozial engagiert, einfühlsam. Ehrgeizig ist er nicht. Sein Abitur hat er mit Ach und Krach geschafft, viel wichtiger war ihm die Zeit danach, das Soziale Jahr, das er in Afrika verbrachte, wo er Einheimischen half, Brunnen zu bauen. Seine Eltern fragen sich beunruhigt, wie er durchs Leben kommt und wann er endlich »etwas Vernünftiges« macht.
Auch Merles Eltern machen sich Sorgen um ihre Tochter. Merle ist 21 Jahre alt und tritt als Sängerin in kleinen Klubs auf. Sie singt in zwei Bands und hofft auf einen Plattenvertrag. Fünf Nächte in der Woche jobbt sie in einer Kneipe, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr Vater ist Bankangestellter, ihre Mutter Hausfrau. Merles Leben ist ihnen suspekt, sie fragen ihre Tochter immer wieder, was sie mit ihrer Zukunft anstellen möchte. Merles Antwort »Singen« beruhigt sie nicht.
Mit brotloser Kunst beschäftigt sich auch Arno, der sich in den Kopf gesetzt hat, Schauspieler zu werden. »Zu unsicher«, befinden seine Eltern. »Lieber unsicher und glücklich als sicher und unglücklich«, findet Arno und bewirbt sich unbeirrt bei Schauspielschulen, jobbt als Komparse und Hilfskraft bei Filmproduktionen und freut sich über jeden kleinen Schritt hin zur Verwirklichung seines Ziels. Leistung ist messbarer als Leidenschaft, und es ist das, was sich viele Eltern selbstverständlich von ihren Kindern wünschen. »Er hat ein Abi von 2,4 gemacht – aber es hätte viel besser sein können!«, klagt eine meiner Kolleginnen über ihren »faulen« Sohn. »Sie strengt sich einfach nicht an. Wenn sie sich mehr auf die Schule als auf ihre Klamotten konzentrieren würde, würde sie den Realschulabschluss mit links machen«, höre ich von einer meiner Freundinnen über ihre pubertierende Tochter. Auch in meiner Praxis begegnen mir regelmäßig Eltern, die ihre Kinder (zu) hohem Leistungsdruck aussetzen – weil sie es gut mit ihren Kindern meinen.
Eines Tages suchte mich ein Mann auf, der von großen familiären Schwierigkeiten berichtete. Sein Sohn sei aufmüpfig und rebelliere immer mehr, dabei sei Justus erst zehn Jahre alt und noch nicht einmal in der Pubertät. Seine Frau und er wüssten sich nicht mehr zu helfen. Wogegen der Sohn rebelliere, fragte ich. Es stellte sich heraus, dass der Vater einen hoch dotierten Posten in einem Wirtschaftsunternehmen hatte und für seinen Sohn die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen wollte. Er selbst kam aus armen Verhältnissen, er sei von seinen Eltern nie gefördert worden und habe sich seinen Erfolg Schritt für Schritt erkämpfen müssen. Sein Sohn sollte es auf jeden Fall einfacher haben als er, seine berufliche Laufbahn sollte schon jetzt geebnet werden. Früher sei Englisch die wichtigste Geschäftssprache gewesen, heutzutage sei China das Land der Zukunft, und deshalb solle Justus nun Chinesisch lernen. Justus jedoch weigere sich mit Händen und Füßen. Der Vater erklärte mir erneut seine Verzweiflung, weil der Berufseintritt seines Sohnes bald bevorstehe.
Eintritt ins Berufsleben? Chinesisch? Der Sohn war zehn Jahre alt, vergewisserte ich mich. Eine jahrelange therapeutische Ausbildung ist nicht nötig, klarer Menschenverstand ist ausreichend, um zu erkennen, dass ein zehnjähriges Kind lieber draußen spielen soll, als Chinesisch zu lernen. Nachvollziehbarerweise rebellierte das Kind. Ich erklärte dem Mann das Verhalten seines Sohnes. Ich bot dem Mann an, gemeinsam mit seiner Frau zu einer weiteren Sitzung zu kommen, um an ihren Ansprüchen zu arbeiten. Ich deutete seine Wünsche für seinen Sohn als gut gemeinte, aber fehlgeleitete Erwartungen. Selbstverständlich lehnte ich die vom Vater gewünschte Einzelarbeit mit dem Sohn ab, da diese mit dem Auftrag verknüpft werden sollte, den Kleinen dahingehend zu »coachen«, dass er
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