Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Täter, aus einem gequälten Kind ein quälender Erwachsener.
Viele Kinder dürfen ihre Eltern nicht verlassen. Selten sind bindende Aufträge so deutlich und aggressiv formuliert wie in Elenas Familie. Es gibt weitaus subtilere Formen, sein Kind an sich zu binden.
Felipe, ein südamerikanischer Freund von mir, lebt seit vielen Jahren in Hamburg. Jedes Jahr verbringt er ein paar Wochen in seiner südamerikanischen Heimat, wo seine 43-jährige Schwester mit den Eltern noch unter einem Dach lebt. Jedes Mal kommt er niedergeschlagen zurück, weil er die ungesunden Strukturen seiner Familie erkennt, aber nichts daran ändern kann. Immerzu wird emotionaler Druck aufgebaut. Mal ist der Vater schwer krank. Mal liegt die Mutter im Sterben. »Felipe, komm nach Hause, wenn du deine Mutter noch ein letztes Mal sehen willst«, heißt es immer wieder. Und dann ist da seine Schwester, die seine Eltern betreut und nicht gehen kann. »Warum zieht sie nicht in eine eigene Wohnung in der Nähe und fängt ihr eigenes Leben an?«, frage ich. »Weil sie unselbstständig ist. Wie ein kleines Kind. Wenn meine Eltern mal nicht mehr sind, wird sie völlig aufgeschmissen sein«, erklärt er. Wer versorgt hier wen? Wer ist so krank, dass die Familie sich nicht altersgemäß aufteilen darf? Solche Teufelskreis-Geschichten sind typisch für Familien, in denen Kinder den Auftrag bekommen, die Eltern nicht zu verlassen.
Wie stellt man es an, dass ein erwachsenes Kind dauerhaft bei den Eltern bleibt?
Der eine Weg führt über die Infantilisierung des Kindes. Das Kind wird künstlich klein und unselbstständig gehalten. Alle Belange des Lebens stehen unter elterlicher Fuchtel. Finanzen, Lebensstil, am besten noch ein Job in der Familie oder gar keiner – »wofür denn, wir sorgen doch für dich«. Hinzu kommen falsche Selbstdefinitionen über das Kind oder selbstwertschädigende Glaubenssätze, mit denen es früh indoktriniert wird: »Das schaffst du nicht«, »Du bist nicht gesund/stark/intelligent/liebenswert genug für die Welt da draußen/eine Beziehung/die Arbeitswelt«. Die Gefühle des Kindes und dessen Bedürfnisse werden systematisch verwirrt, dem Kind wird so jede Selbstständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und sogar Gesundheit abgesprochen. Treue zur Familie hat oberste Priorität: »Wir haben doch uns! Was brauchst du mehr im Leben?«
Eine zweite stark bindende Situation entsteht, wenn einer der Elternteile bedürftig ist und sich an das Kind klammert. Statt ihr Kind in die Selbstständigkeit zu begleiten und zu einem unabhängigen, erwachsenen Leben zu ermutigen, verlangen diese Eltern, dass sie von ihren Kindern versorgt werden. Eine Ablösung ist schwer bis unmöglich und wird oft von einer enormen »Ausbruchsschuld« begleitet.
Vanessa ist 30 Jahre alt, als sie mich in meiner Praxis aufsucht. Sie hat sich vor ein paar Monaten verliebt, das erste Mal ist es ihr richtig ernst mit einer Beziehung. Ihrem Freund geht es genauso, er möchte gern mit ihr zusammenziehen und eine Familie gründen. Eigentlich müsste es Vanessa hervorragend gehen. Aber da gibt es Ängste und Sorgen. Es gibt eine medikamentenabhängige Mutter. Und einen emotional abwesenden Vater, der den Medikamentenmissbrauch seiner Frau seit nunmehr fast 40 Jahren toleriert. Vanessa fällt die Aufgabe zu, über das Wohlergehen der Mutter zu wachen. Mehr noch, sie ist verantwortlich dafür. Sie hat bisher alles versucht, um die Mutter, die jegliche therapeutische Hilfe ablehnt, zu heilen. Akribisch überwacht sie ihre Tabletteneinnahme und begleitete die Mutter bei einem Entzug zu Hause.
Vanessas Mutter Ilse nimmt Tabletten, seit sie Anfang 20 ist. Ihre Eltern waren kurz nacheinander gestorben und hatten sie allein zurückgelassen. Ilse wohnte damals noch in ihrem Elternhaus und war dem Leben auf eigenen Füßen nicht gewachsen. Kurz nach dem Tod ihrer Eltern kommt sie einem Geschäftspartner ihres Vaters näher und heiratet ihn sehr schnell, um der Einsamkeit zu entfliehen. Ein Jahr nach der Hochzeit bekommt das Paar ein kleines Mädchen, Franziska. Ilse ist glücklich und ängstlich zugleich. Die Liebe zu ihrer kleinen, verletzlichen Tochter weckt die verdrängte Trauer über den Tod ihrer Eltern und schürt Verlustängste. Ilse reißt sich für ihre Tochter zusammen. Als Franziska vier Jahre alt ist, passiert ein Unglück. Franziska wird während eines Kindergartenausflugs von einem Auto erfasst und stirbt noch am Unfallort. Ilse steht monatelang unter Schock.
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