Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
Vom Netzwerk:
vollständig und unwiderruflich aus, reduziert ihn auf seine äußere Hülle, wie sie es wohl auch schon vor der Verwandlung getan hatte, und zeigt ihm auf unterschiedliche Art und Weise, dass er keine Daseinsberechtigung mehr habe. Gregor sieht die Notwendigkeit zu verschwinden ein, wie er seit jeher alles eingesehen und entschuldigt hatte, was seine Familie ihm auferlegt und abverlangt hatte. Er, der seit seiner Verwandlung geschunden, verstoßen, geächtet wird, zieht sich schließlich in sein Zimmer zurück und gibt das Leben auf, das keines mehr ist. Alles Menschliche und Menschenwürdige ist ihm genommen worden, seine menschliche Gestalt, seine Sprache, seine physische Unversehrtheit, nachdem sein Vater ihn bei einem Ausflug in der Wohnung mit Äpfeln beworfen und seinem Sohn eine schlimme Wunde zugefügt hat.
    »Er machte bald die Entdeckung, daß er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, daß er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen. Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die ganz von weichem Staub bedeckt waren, spürte er schon kaum. An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor.«
    Selbst im letzten Atemzug entspricht Gregor Samsa den Wünschen seiner Familie: Er verschwindet, lediglich sein toter Körper bleibt als zu entsorgende Bürde zurück.
    Franz Kafka hat dieses beeindruckende Psychogramm einer ausstoßenden Familie aus der Erfahrung heraus geschrieben, selbst ein ausgestoßenes Kind gewesen zu sein. In einem Brief an seinen Vater schreibt Kafka, wie wenig er sich von diesem in seiner Persönlichkeit gesehen und geachtet gefühlt habe, wie schmerzhaft es gewesen sei, »ein Nichts« in den Augen des Vaters zu sein. Kafka wehrt sich gegen diese Nichtigkeit, indem er die Beziehung zu seinem Vater in unterschiedlicher Form zu Papier bringt – und bleibt seinem Vater dennoch treu mit dem Befehl, alle seine Werke nach seinem Tode zu vernichten.
    Die 32-jährige Martina führt die Sehnsucht nach elterlicher Zuneigung nicht in den Tod, wohl aber in den finanziellen Ruin. Sie weiß, dass sie kein Wunschkind war, einmal hatte ihre Mutter ihr sogar erzählt, dass sie »ein Unfall« gewesen sei, zu spät bemerkt, um noch abgetrieben werden zu können. Die Eltern versorgen ihre Tochter nur notdürftig und erwarten von ihr, früh selbstständig und unabhängig zu werden. Martina gehorcht, sie zieht früh von zu Hause aus, macht eine Ausbildung und steht mit 18 Jahren auf eigenen Beinen.
    Martina hat so wenig elterliche Zuneigung und Zuspruch bekommen, dass sie für immer danach hungern wird. Dementsprechend würde Martina alles tun, um ihren Eltern zu gefallen. Als diese sie auffordern, einen Kredit für ihr Haus zu unterschreiben, zögert Martina keine Sekunde. »Ich fühlte mich gebraucht und dachte, sie wären mir dankbar und würden mich dann lieber haben«, sagt sie Jahre später, bankrott, weil die Eltern sie mit unbezahlten Krediten, einem heruntergewohnten Haus und einem Berg voller Schulden zurückgelassen haben. Martinas Eltern sind ihrer eigenen Tochter gegenüber kriminell geworden, haben sie ausgenutzt und betrogen. Als Martina ihre Eltern zur Rede stellen will, werfen diese ihre Tochter wütend aus dem Haus: »Du undankbare Göre, wag es ja nicht, noch einmal wiederzukommen. Wir haben alles für dich getan, und jetzt, wo wir einmal deine Hilfe bräuchten, lässt du uns im Stich! Für uns bist du gestorben.«
    Martina bleibt auf ihrer Verzweiflung, ihrer Wut und ihren unbeantworteten Fragen sitzen. »Womit habe ich das verdient, dass sie mein Leben zerstören wollen? Mit meinem Gehalt als kleine Angestellte kann ich die Schulden für das Haus mein ganzes Leben lang nicht bezahlen.« Das Haus geht schließlich in die

Weitere Kostenlose Bücher