Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Zwangsversteigerung, und Martina wird recht behalten, dass sie ihr ganzes Leben an den Schulden, die ihre Eltern ihr eingebrockt haben, zahlen muss, ohne einen Gegenwert dafür zu haben. Nicht einmal ein Lob, geschweige denn die Liebe ihrer Eltern. Im Gegenteil: Martinas Eltern fühlen sich als Opfer ihrer unverschämten Tochter, die ihnen ihr Zuhause genommen hat – das werden sie ihr nie verzeihen. Ein Gefühl für Selbstverantwortung stellt sich nicht ein.
Ein Blick in die Familiengeschichte zeigt, dass Opfergefühle bei gleichzeitiger Ausbeutung der Kinder System haben. Seit Generationen werden in Martinas Familie die Kinder nicht versorgt, sondern ausgestoßen und ausgenutzt, es mangelt an Verantwortungsbewusstsein und gesundem Gerechtigkeitssinn. So schwer es ihr fällt, Martina bleibt nichts anderes übrig, als innerlich Abstand zu nehmen von ihren ausbeuterischen Eltern.
Wie bei den meisten Fehlverläufen handelt es sich auch hier um eine unbewusste Dynamik. Ausgebeutete Kinder werden zu ausbeutenden Eltern und verlangen alles vom Kind, ohne ihm etwas zu geben. Die Ungerechtigkeiten setzen sich von Generation zu Generation fort, die auflaufenden emotionalen Schulden werden nicht abgetragen, sondern weitervererbt. Wenn Kinder die elterlichen Erwartungen nicht erfüllen, steigt das Maß der Ablehnung. So wird verständlich, dass eine typische Überlebensstrategie ungeliebter, vernachlässigter Kinder das Streben nach Aufmerksamkeit, Erfolg und Macht ist. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht, gesehen, gehört, geachtet zu werden – geliebt zu werden. Das vermeintliche Selbstbewusstsein ist nur Fassade, der Ehrgeiz Getriebenheit. Die frühe Selbstständigkeit basiert nicht auf Reife und echter Unabhängigkeit, sondern auf der Erfüllung der elterlichen Aufträge und dem allen Menschen angeborenen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Geborgenheit.
Ehemals vernachlässigte Kinder erkennt man nicht immer auf den ersten Blick. Ungleich dem verwandelten Gregor Samsa haben sie sich oft eine unsichtbare und festere Schale zugelegt, eine, unter der sie die Lieblosigkeit ihrer Familie nicht spüren. Oft sind es Menschen, die ihr Leben von außen betrachtet gut im Griff haben, die erfolgsorientiert und verantwortungsbewusst sind. Nur hinter der Fassade nimmt man die Brüche wahr, die emotionale Distanz, die sie von den Eltern kannten und die sie heute in Beziehungen schützt. Und gleichzeitig die vorhandene tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit. »Einmal loslassen«, so beschreibt die essgestörte Nicola ihren größten Wunsch. »Einmal loslassen und aufgefangen werden. Aber dafür müsste ich mich trauen, loszulassen. Die Angst, danach ins Bodenlose zu fallen, ist groß. Oder dass mein Gegenüber dann sagt: ›Steh selbst auf, du hast dich ja auch fallen lassen.‹ Mein Ziel ist es, einen Mann zu finden, der mich gerne hält, und mit ihm dann eine Familie zu gründen. Aber erst mal muss ich üben, mich zuzumuten und ab und zu mal unbequem zu sein und anderen auf die Nerven zu gehen.«
Wie Nicola suchen ehemals verstoßene Kinder Nestwärme in ihren Partnerschaften und später oft auch bei ihren eigenen Kindern. Im Idealfall findet im Lauf der Zeit durch viele gute Erfahrungen eine Heilung statt, und die alten Wunden können sich schließen. Oder die ehemals verstoßenen und ausgebeuteten Kinder entscheiden sich bewusst, ihren eigenen Kindern andere, bessere Eltern zu sein.
»Mission impossible« – Wenn familiäre Aufträge verwirren und unglücklich machen
»Die Hälfte des Lebens verbringt der Mensch damit,
die falschen Vorstellungen seiner Vorfahren loszuwerden; die andere damit, seinen Kindern falsche Ansichten beizubringen.«
WINSTON CHURCHILL
Die 34-jährige Isabel wird von allen für ihre steile Karriere beneidet, sie selbst jedoch hadert damit, dass sie nicht noch erfolgreicher ist. Isabels Unzufriedenheit resultiert aus überhöhten Ansprüchen, die seit Generationen an die Mitglieder ihrer Familie gestellt wurden. Bereits Isabels Vater wurde von seinem strengen Vater schikaniert, er wuchs auf mit dem Maßstab: »Sehr gut ist nicht gut genug.« Er übernahm diesen Leitsatz, und als er selbst Vater wurde, erzog er auch seine Tochter mit dem entmutigenden familiären Leistungsmotto. Isabel fühlt sich wie im Hamsterrad – solange sie gemäß dem familiären Auftrag handelt, wird sie nie am Ziel ankommen, weil es kein Ziel gibt, da niemand ein Gefühl für »Genug« entwickelt
Weitere Kostenlose Bücher