Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
unglücklich und uneins mit sich selbst. Niemand kann sich erklären, warum der Kleinste so anders geraten ist.
Untersucht man die fein verästelten Loyalitäten und die unbewussten Aufträge dieser Familie, wird deutlich: Zwischen Noah und seinem Vater gibt es ein heimliches Band. Während der Vater seine Wünsche und seinen Groll herunterschluckt, wird Noah zum Seismografen der väterlichen Unzufriedenheit und lebt diese stellvertretend aus. Florian wiederum unterstützt die Rolle seines Sohnes unbewusst: Während er Noah tadelt, leuchten seine Augen, und manchmal huscht ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Florian sagt dann: »Hör auf, das mag deine Mama nicht«, und nur der scharfe Beobachter nimmt Florians unterschwellige Freude über das widerständige Verhalten des Sohnes wahr. Und so wird Noah immer mehr zum heimlichen Sprachrohr des Vaters, lebt dessen unterdrückte Aggressionen aus und bestraft Britta für die Durchsetzung ihrer Wünsche. »Das hast du nun davon«, scheint Noah, einstmals vermeintlicher Garant für Brittas Glück, seiner Mutter aus allen Poren zu vermitteln. Eins ist klar: Die familiäre Situation ist so angespannt, dass ein viertes Kind nun nicht mehr infrage kommt. Eine berufliche Veränderung für Florian allerdings auch nicht mehr.
Als das Familienleben unerträglich wird, holt sich die Familie schließlich Hilfe bei mir. Im Rahmen einer Familientherapie verstehen Britta und Florian, wie es zu ihrer misslichen Lage kommen konnte und wie sie sie auflösen können. Florian muss lernen, Verantwortung für seine Wünsche zu übernehmen, diese aussprechen und notfalls dafür kämpfen. Nur so kann er Noah aus seiner zu starken Loyalitätsbindung entlassen und ihn freigeben für eine friedvolle und ausgeglichene Treue beiden Eltern gegenüber. Britta muss lernen, ihrem Mann mehr Raum zu geben und mehr auf ihn einzugehen. Mit viel Mühe gelingt es dem Paar, wieder ein gesundes familiäres Gleichgewicht herzustellen, mit erkennbaren Grenzen zwischen den Personen und den Generationen. Noah entspannt sich sichtlich im Laufe der Zeit, und je mehr sich die Beziehung der Eltern klärt, desto besser wird auch die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Dieser kann nun Britta endlich als das wahrnehmen, was sie ist: als seine Mutter und nicht als Gegenspielerin des Vaters.
Britta und Florian erwiesen sich selbst und ihrem Sohn einen riesigen Dienst, indem sie Noah aus ungerechten Loyalitäten und Aufträgen entließen. Oft genug jedoch bleiben Kinder in der Loyalitätsfalle zu einem Familienmitglied stecken und führen stellvertretend dessen Leben, dessen Ideen, Widerstände und Konflikte fort, wie es in Scheidungsfamilien mit hoch streitbaren Eltern oft der Fall ist. Massive Loyalitätskonflikte sind die Folge, wenn die sich trennenden Eltern unvereinbare, weil exklusive Treueansprüche an ihre Kinder stellen. Um dem Konflikt zu entgehen, stellen sich Kinder dann oft auf die Seite eines Elternteils und übernehmen dessen feindselige Haltung dem anderen Elternteil gegenüber. Diese nur vermeintlich freiwillige Entscheidung, die damit einhergehenden Ohnmachts- und Schuldgefühle hinterlassen tiefe Wunden, die ein Kind prägen und in seiner Entwicklung und Beziehungsfähigkeit beeinträchtigen. Ähnliche Konsequenzen wären auch in Noahs Familie zu erwarten gewesen, wenn die Eltern ihre Probleme nicht frühzeitig gelöst hätten: Noah wäre aufgewachsen mit dem Gefühl, dass er Frauen bekämpfen muss, bevor sie ihn besiegen. Im Namen seines zu kurz gekommenen Vaters hätte Noah später aussichtslose, weil unpassende Kämpfe mit seinen ahnungslosen Partnerinnen ausgefochten. Und Noahs Kinder hätten ebenfalls das Lebensthema ihres Großvaters vorgelebt bekommen. Und das alles, weil ein Sohn seinem Vater gegenüber loyal war und dessen unausgesprochene Aufträge übernommen hatte.
Auch der 40-jährige Henning ist lange Zeit auf geheimnisvolle Art und Weise mit seinem Vater verbunden. In der ersten Sitzung, zu der er gemeinsam mit seiner Freundin Anna erscheint, erfahre ich: Henning hat zwei Kinder mit zwei Frauen – wie sein Vater. Er hat beide Frauen verlassen, als sie ihm eröffneten, dass sie schwanger seien – wie sein Vater. Er hat keinen Kontakt zu seinen Kindern – wie sein Vater. Henning ist ohne Vater aufgewachsen, aber er hat sich immer nach ihm gesehnt. Unbewusst führt er dessen Verhalten im Erwachsenenleben fort. Das ist die einzige Möglichkeit, eine Gemeinsamkeit zu schaffen, ihm
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