Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
gemeinsam mit seiner schwangeren Freundin Iris auf.
»Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, warum willst du plötzlich nur noch weg? Die Schwangerschaft war ein Versehen, aber wir haben uns doch beide gegen eine Abtreibung entschieden!«, sagt Iris verzweifelt und streichelt mit beiden Händen über ihren Bauch. David wirkt nicht minder verzweifelt. Der 33-Jährige kann sich seine Fluchtgedanken nicht erklären. Ich lasse David von seinen früheren Beziehungen erzählen, und es stellt sich heraus, dass er nach einer Weile immer den Drang hatte, alles aufzulösen, es bloß nicht zu ernst werden zu lassen. Sein jüngerer Bruder Ari sei da ganz anders, er habe früh geheiratet, mit 24 Jahren, aber Tamara sei auch ein »ordentliches jüdisches Mädchen«.
Ich horche auf. Frage nach Davids Eltern und Großeltern. Davids Vater Jakob ist Jude, Davids Mutter Manon nichtjüdische Deutsche. Die Hochzeit der beiden habe damals zu einem familiären Eklat geführt, Jakobs Eltern seien nicht zur Hochzeit erschienen und hätten den Kontakt zu ihrem Sohn abgebrochen. Die beiden waren Holocaust-Überlebende, denen es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gelungen war, Deutschland zu verlassen, und die stets mit ihrem Bleiben im Land der Täter gehadert hatten. Sie hatten ihren Kindern ausdrücklich aufgetragen, sich jüdische Partner zu suchen. Als Jakobs Wahl ausgerechnet auf eine nichtjüdische blonde Deutsche fiel, konnten seine Eltern nicht aus ihrer Haut. »Sollen wir mit ihren Eltern an einem Tisch sitzen? Wer weiß, was sie im Krieg gemacht haben? Vielleicht hat ihr Vater einen aus unserer Familie auf dem Gewissen! Wie können wir das Glas auf deine Frau erheben, wenn ihre Familie geholfen hat, unsere Familie, unser Volk zu vernichten!«
Jakob versuchte, seine Eltern zu beschwichtigen. Ein Teil in ihm verstand ihre Bedenken und ihre Qual beim Gedanken daran, dass er sich mit der Tätergesellschaft »verbinden« wollte. Ein anderer Teil in ihm war widerständig und hielt ihnen vor, dass sie ihm nicht vorschreiben könnten, in wen er sich verliebe, vor allem nicht, wenn sie sich entschieden hätten, ihre Kinder in Deutschland großzuziehen. »Wären wir nach Israel oder in die USA gezogen, dann hätte ich mir wohl kaum eine deutsche Frau ausgesucht«, argumentierte er. Seine Eltern blieben hart. Eine Deutsche kam für sie als Schwiegertochter nicht infrage. Jakob versuchte alles, um seine Eltern umzustimmen. Ohne Erfolg, sie blieben sowohl der Hochzeit als auch weiteren Einladungen fern. Irgendwann gab er schweren Herzens die Hoffnung auf, sich je mit seinen Eltern zu versöhnen.
Kurz bevor David geboren wurde, starb Jakobs Vater. Jakob und Manon nahmen sowohl die Beerdigung als auch die Geburt ihres ersten Kindes zum Anlass, den Kontakt mit Jakobs Mutter wiederaufleben zu lassen. Jakobs Mutter war dankbar für das Angebot, seit Jahren hatte sie versucht, ihren Mann zu erweichen, und nun war sie allein und wollte sich die Nähe zu ihrer Familie nicht weiter versagen. Die Großmutter und ihr erstgeborener Enkel David entwickelten ein besonders inniges Verhältnis, nicht zuletzt, weil David sie an ihren verstorbenen Mann erinnerte. David weiß, was vor seiner Geburt vorgefallen ist, und er nimmt sich vor, seiner Großmutter nie Kummer zu machen. Unbewusst übernimmt er den großelterlichen Auftrag, keine deutsche, nichtjüdische Frau zu heiraten. Mit seiner Strategie, seine deutschen Freundinnen zu verlassen, bevor es ernst wird, bleibt er seinen Großeltern treu und bezahlt die Altschulden seines Vaters.
Die Schwangerschaft seiner Freundin bringt ihn jedoch in eine ausweglose Lage: Ein Kind abzutreiben ist besonders vor dem Hintergrund seiner familiären Vergangenheit, in der so viele Verwandte ermordet wurden, für ihn undenkbar. Ein Kind mit einer Nichtjüdin zu bekommen verletzt wiederum das alte familiäre Gebot. David fühlt sich gefangen, aber er muss eine Entscheidung treffen: für die Vergangenheit oder die Zukunft. Deshalb empfehle ich ihm, ein offenes Gespräch mit seiner Großmutter zu führen, ihr sein Dilemma mitzuteilen und sie um Rat zu bitten. David hat Angst vor der Enttäuschung seiner Großmutter, aber er verspricht mir, ihr bis zu unserem nächsten Treffen einen Besuch abzustatten.
Zwei Wochen später kommen Iris und David Hand in Hand in meine Praxis spaziert. Beide sehen aus, als hätte man ihnen Gewichte von den Schultern genommen. »Ich habe mit meiner Oma gesprochen«, eröffnet David die Sitzung.
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