Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
über ihren Tod hinaus mit ihnen verbunden.
Wie viele Menschen kämpft auch Griffin zeit seines Lebens mit familiären Aufträgen und der unbewussten Loyalität zu seinen Eltern. Er bewegt sich in einem Spannungsfeld von Abwehr und Schuldgefühlen seinen Eltern gegenüber, und die Unfähigkeit, Frieden zu schließen, vergiftet ihn von innen. Aus diesem Grund beneidet er einen Freund, der in Heimen aufgewachsen ist und seine leiblichen Eltern nicht kennt:
»Er reist ohne Gepäck. Er geht als freier Mann durchs Leben. Er besitzt große, bislang ungenutzte Vorräte jener Unwissenheit, zu deren Belohnung Glück erfunden worden ist.«
Griffin ist mit fast 60 Jahren ein unabgelöstes Kind. Glück stellt er sich deshalb als Freiheit von den Eltern vor oder besser noch als elternloses Dasein, das keine Richtung vorgibt und keine Vergangenheit besitzt.
Griffin irrt: Auch elternlose Menschen sind geprägt durch ihre familiäre Vergangenheit, die Verbindungen sind meist nur schwerer aufzudecken. Wir alle haben eine Vergangenheit, die weit vor den Zeitpunkt unserer Zeugung zurückreicht. All das, was unsere Eltern und Großeltern erfahren haben, wird in unserem Leben auf die ein oder andere Weise spürbar sein, sich mitunter wiederholen, uns stärken, schwächen und in den ein oder anderen Konflikt stürzen. Ablösung ist eine lebenslange Aufgabe, sie ist eng gekoppelt an die Sinnfrage, die wir uns im Erwachsenenleben immer wieder stellen.
Die heute 42-jährige Lena hat lange versucht, den Sinn ihres Lebens konsequent entgegengesetzt den Werten ihres Vaters zu formulieren. Um den konservativen Vater zu schocken, rasiert sie sich in der Pubertät die Haare ab. In der Oberstufe bleibt sie zweimal sitzen, obwohl sie das Abitur ohne Weiteres beim ersten Anlauf hätte schaffen können. Es folgen abgebrochene Ausbildungen und Studiengänge, destruktive Beziehungen, Alkohol- und Drogenprobleme. Scheinbar ziellos irrt sie durch ihre 20er-Jahre, innerlich den Kompass auf Gegenkurs zum Vater eingestellt. Mit 32 wird ihr Trudel gestoppt, ihr Körper rebelliert so stark, dass sie ihn nicht mehr übergehen kann wie die Male zuvor, denn diesmal versagt er ihr den Dienst. Die Gelenkschmerzen, die Lena seit ihrer Pubertät quälen, sind so stark geworden, dass sie sich kaum noch bewegen kann. Die Ärzte finden keine körperliche Ursache, niemand kann ihr helfen.
Lena wird depressiv, scheinbar als Folge der körperlichen Schmerzen. Als es ihr immer schlechter geht, lässt sie sich in eine psychosomatische Klinik einweisen. Fast drei Monate bleibt sie dort. Und erfährt in dieser Zeit eine lebenswichtige Begegnung: mit dem seelischen Schmerz, der ursächlich für ihre körperlichen Beschwerden ist.
Lena war gerade zehn Jahre alt, als ihre Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Lenas Vater hatte seiner Tochter das Unglück tonlos mitgeteilt und sich dann in seinem Schlafzimmer eingeschlossen. Er wollte allein sein, allein trauern. Lena sollte nicht unter seiner Schwäche leiden, sie sollte ihren Vater nicht verzweifelt sehen. Am nächsten Morgen deckte er den Frühstückstisch für zwei Personen. Der Platz der Mutter blieb leer. Schweigend frühstückten sie, schweigend fuhr er Lena zur Schule und anschließend selbst zur Arbeit.
In den folgenden Jahren tat der Witwer alles, um den Alltag möglichst reibungslos zu gestalten, und versuchte, seiner Tochter die Mutter, so gut es ging, zu ersetzen. Raum für Gefühle bot er nicht. Diese Aufgabe hätte ihn überfordert. Er selbst hatte als sechsjähriger Junge seinen Vater im Krieg verloren. Seine Mutter war 28 Jahre alt, als sie Witwe wurde, es war Krieg, es gab nichts zu essen, und sie hatte drei kleine Kinder, die sie versorgen musste. Als Lenas Vater über die Nachricht des Todes seines Vaters zu weinen begann, fuhr seine Mutter ihn an, er möge sich zusammenreißen und seine jüngeren Geschwister nicht beunruhigen. Sie konnte die Tränen ihres Sohnes nicht ertragen, weil sie ihn nicht trösten konnte. Sie drängte ihre eigene Trauer und die Trauer ihrer Kinder zurück, um lebensfähig zu bleiben, um nicht zusammenzubrechen.
Menschen wiederholen besonders in Krisenzeiten das, was sie aus ihrer Kindheit kennen. »Zähne zusammenbeißen, weitermachen« war das Motto, nach dem Lenas Vater erzogen worden war, und es war das Motto, auf das er nach dem Tod seiner Frau zurückgriff und mit dem er seine Tochter erzog. So wuchs auch Lena mit der alten familiären Vorgabe auf, Gefühle nicht
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