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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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zu spüren und nicht zu zeigen – das Leben muss weitergehen. Niemand war da, der sie in ihrer Trauer aufgefangen und begleitet hätte. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater lebte verbissen weiter. Also ging auch ihr Leben weiter, als ob nichts geschehen sei.
    Gefühle lassen sich nicht ewig unterdrücken, irgendwann finden sie einen Weg, um an die Oberfläche zu gelangen. In Lenas Fall suchten sie sich einen Weg über ihren Körper, über die Schmerzen, die immer stärker wurden und sie schließlich dazu zwangen, innezuhalten und das zu spüren, was so lange nicht sein durfte. In gewisser Weise steckte Lena der Schmerz ihrer Ahnen in den Knochen, die ungeweinten Tränen ihres Vaters und ihrer Großmutter. Dazu kam ihre eigene Trauer, die sie so lange verdrängt hatte. Lena erkannte, dass sie ihrem Vater sehr viel ähnlicher war, als sie geahnt hätte. Wie ihr Vater verschob und verdrängte sie ihre Gefühle, anstatt sie wahrzunehmen und darüber zu reden. Wie ihr Vater lebte sie seit vielen Jahren trotz starker Schmerzen tagaus, tagein einfach weiter, anstatt sich der Ursache – ihrem verdrängten Schmerz über den Tod ihrer Mutter – zu stellen.
    Und sie verstand plötzlich ihren destruktiven Autopiloten, der ihr Leben über lange Jahre gesteuert hatte. Nicht sie hatte ihr Leben bestimmt, sondern in gewisser Weise ihr Vater, denn jede ihrer Entscheidungen war ausgerichtet auf sein Missfallen. Ihr ganzes Leben war ein »Nein« zu den väterlichen Erwartungen. Es ging nicht um das, was sie wollte, sondern um das, was ihr Vater nicht wollte. Und noch etwas erkannte Lena während ihres Klinikaufenthalts: den geheimen Pakt zwischen Vater und Tochter, der beide daran hinderte, sich endlich dem Verlust der Mutter zu stellen. Die vielen fruchtlosen Auseinandersetzungen, die vermeintlich unterschiedlichen Lebensentwürfe, das Unverständnis auf beiden Seiten, die ganze destruktive Beziehung, die sie miteinander führten, diente nur einem Zweck: sie abzulenken von ihrem Kummer. Sie abzuhalten davon, allein und gemeinsam zu trauern.
    Als Lena diese Verstrickung bewusst wurde, weinte sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit. Sie weinte um ihre Mutter, um ihren Vater und auch um ihre Großmutter. Sie weinte um ihre Kindheit und um die ganzen Jahre, in denen sie unbewusst gegen den Vater gekämpft hatte, anstatt ihr eigenes Leben zu leben.
    Am Tag der Entlassung bittet Lena ihren Vater, sie aus der Klinik abzuholen und gemeinsam mit ihr zum Grab der Mutter zu fahren. Der Vater willigt überrascht ein. Als sie am Grab stehen, bemerkt er: »Du bist heute genauso alt, wie sie damals war, als sie starb.« Lena schämt sich ein wenig vor ihrem Vater, als ihr eine Träne herunterkullert, aber sie zwingt sich, sie nicht wegzuwischen. Sie kann ihrem Vater nicht vorschreiben, wie er mit seinem Kummer umgeht, aber sie will dem familiären Gesetz nicht weiter folgen. Das Leben geht weiter. Es hört nicht auf, auch wenn Lena ihre Gefühle wahrnimmt und sie nach außen zeigt. Es fängt so erst richtig an.
    Ob wir die Aufträge unserer Eltern und Vorfahren annehmen oder sie rigoros ablehnen: Solange eine Lähmung oder ein Kampf in unserem Inneren besteht, ist keine gesunde, reife Ablösung erfolgt. Absoluter Widerstand gegen die Eltern bedeutet nicht, ein eigenständiges Leben zu führen, es bedeutet lediglich, noch im Kampf mit den Eltern zu sein. Auch absolute Harmonie oder, provokant ausgedrückt, die Gleichschaltung der Gefühle und Gedanken ist meist kein Zeichen für funktionierende familiäre Beziehungen, sondern weist eher auf zu starke familiäre Treuebündnisse hin. Diese harmoniebetonten unbewussten Verstrickungen mit der Herkunftsfamilie fliegen häufig erst auf, wenn wir eine Partnerschaft eingehen, in der der Partner einen Gegenpol zur Familie bildet und eine neue Stellungnahme von uns fordert, die ihn mit einbezieht.
    Ein uralter Kampf: Meine Familie, deine Familie
    »Später wird ihr klarwerden, dass er sich nie zugestanden hat, ihr verbunden zu sein, oder sie ihm. Sie wird auf das Wort in einem Roman starren, es aus dem Buch heben und zu einem Lexikon tragen.
Jmd. verbunden sein. Jmd. verpflichtet sein. Und er, das weiß sie jetzt, hat das nie zugestanden.«
    MICHAEL ONDAATJE , Der englische Patient
    Typische Loyalitätskonflikte treten im Rahmen der eigenen Familiengründung auf, wenn Altes und Neues zusammenstoßen und verbunden werden wollen. Je weniger die Partner von ihren Ursprungsfamilien abgelöst und sich eventueller

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