Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Verpflichtungen bewusst sind, desto schwieriger ist auch die Klärung partnerschaftlicher Konflikte. Im schlimmsten Fall verhärten sich die Fronten, und es scheint um »meinen Weg oder deinen Weg« zu gehen, wenn es in Wirklichkeit um die jeweiligen Familien der beiden Partner geht.
Janina und Rasmus sitzen vor mir in meiner Praxis und streiten. Immer heftiger wird die Auseinandersetzung, der Tonfall immer schärfer. Es geht um Weihnachten und darum, wo es verbracht werden soll. Rasmus möchte es wie immer mit seiner Familie verbringen. Der 24. Dezember wird traditionell in seinem Elternhaus verbracht, er und sein Bruder übernachten dort, am 25. Dezember wird dann gemeinsam zu Mittag gegessen, und anschließend löst sich die Familie wieder auf, meist fahren Rasmus und sein Bruder dann zu ihren Freundinnen und deren Familien. Janina möchte Weihnachten ebenfalls so feiern, wie sie es gewohnt ist: mit ihrer Familie. In den letzten Jahren ihrer Beziehung haben sie Weihnachten getrennt bei ihren Familien verbracht und sich erst am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags wiedergesehen, meist bei Janinas Familie. In diesem Jahr ist alles anders: Sie sind zu dritt, ihre Tochter Elena ist vor sechs Monaten geboren worden. Wie sollen sie nun feiern? Die Not ist groß und ebenso der Grad an Loyalität, den beide ihren Familien entgegenbringen. Interessanterweise werfen sich beide genau dies vor: »Dir ist deine Familie wichtiger als ich und deine neue Familie!« Beide können den Splitter im Auge des anderen erkennen, nicht jedoch den Balken im eigenen.
Ich bitte beide, eine Frage von mir schriftlich zu beantworten: Für wen wäre es am schlimmsten, wenn Weihnachten nicht genau so verbracht würde, wie alle Beteiligten es gewohnt sind? Ich bitte sie, sich viel Zeit für die Beantwortung der Frage zu nehmen, und reiche ihnen Stift und Papier. Janina beginnt nach einer Weile als Erste zu schreiben. Rasmus starrt auf seinen Stift und dreht ihn immer wieder zwischen seinen Fingern. Janina reicht mir schließlich ihr Blatt Papier. Rasmus seufzt und kritzelt etwas auf den weißen Bogen. Ich lese zuerst Janinas Antwort: »Für mich«, steht dort mit großen Buchstaben. Auf Rasmus’ Blatt stehen zwei Personen: »Für meine Mutter. Und für Janina.« Ich bitte Rasmus, seine Antwort Janina zu erklären, und er beginnt zu erzählen, wie wichtig Weihnachten für seine Mutter Christa ist, die nie ein richtiges Familienleben hatte, nachdem ihr Vater im Krieg gefallen war. Die Nachricht des Todes war den Hinterbliebenen kurz vor Weihnachten übermittelt worden, und so war Weihnachten in ihrer Kindheit gleichbedeutend mit Verlust und Trauer. Rasmus beschreibt, wie seine Mutter es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Weihnachten für ihre Kinder als heiteres und entspanntes Fest zu feiern, und wie wichtig es ihr immer war, die Festtage mit den Kindern und auch ihrer Mutter zu feiern, um auch dieser noch einmal die Chance zu geben, Teil einer »richtigen« Familie zu sein.
Als Rasmus endet, senkt Janina die Augen. »Jetzt schäme ich mich«, sagt sie. »Jetzt hört sich mein ›für mich‹ richtig selbstsüchtig an.« Ich bitte sie, ihre Antwort nicht zu bewerten, sondern zu beschreiben, warum es für sie am schlimmsten wäre, Weihnachten nicht mit ihrer Familie zu verbringen. »Weil es mich traurig machen würde«, beginnt sie. »Weil ich mich woanders nicht so geborgen fühlen würde wie in meiner Familie. Weil ich in diesen paar Tagen noch mal Kind sein kann.« Sie lächelt. »Jetzt wohl nicht mehr, ich bin ja jetzt Mutter. Aber auch für Elena stelle ich es mir schön vor, dass sie Weihnachten als Familienfeier erlebt. Aber das will Rasmus ja auch, das Argument hebt sich auf.« Sie schweigt eine Weile. »Weil ich das einzige Kind meiner Eltern bin. Wenn ich nicht da bin, wären sie ganz allein. Das macht mich traurig, wenn ich nur daran denke.« Ich frage sie, wer von ihren Eltern ähnlich traurig wäre, wenn Janina sie Weihnachten nicht besuchen würde. Sie überlegt eine Weile und zuckt dann die Schultern. »Vielleicht mein Vater, der freut sich immer so, wenn ich komme, aber genau weiß ich es nicht. Vielleicht stelle ich es mir auch einfach nur total traurig vor, wenn ich im Alter so ganz allein Weihnachten feiern müsste.«
»Du feierst Weihnachten nicht allein, wenn du alt bist. Du feierst es mit mir«, sagt Rasmus und lächelt sie an. Die schlechte Stimmung ist verflogen, der Kampf bendet. Das, worum es wirklich geht, ist
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