Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Entscheidung getroffen hat. Hätte sie mit 18 Jahren ein Kind bekommen, hätte sie die familiäre Tradition, zu früh ein ungewolltes Kind zu bekommen, fortgesetzt. Das Kind, das nun geboren wird, ist ein Wunschkind, das erste seit vier Generationen. Dass nochmals 18 Jahre vergingen, bis diese positive Entwicklung geschehen konnte, mag ein Zufall sein. Oder ein weiterer Beleg für familiäre Zeitenphänomene.
Denn genauso, wie es kritische Daten und Phasen im Leben einer Familie gibt, in denen sich Altes wiederholt, kann auch das Lösen aus alten Konflikten in einem zeitlichen Zusammenhang zum Ursprungserlebnis stehen.
Kinder, deren Eltern gestorben sind, tragen deren Todesdatum immer mit sich. Viele entwickeln Ängste, nicht älter als die Eltern zu werden und im gleichen Alter – womöglich sogar an den gleichen Ursachen – zu versterben. Für Lena jedoch wurde das Todesdatum ihrer Mutter zu einem Neuanfang in ein freieres Leben. Sie, die den Schmerz über den Tod ihrer Mutter so lange verdrängt hatte, gab ihrem Leben genau in dem Alter eine positive Wende, in dem ihre Mutter verstorben war.
Auch das »Überleben« der Eltern kann heilsam sein: Jule hatte zeit ihres Lebens Angst, nicht älter als ihre Mutter zu werden, die mit 46 Jahren gestorben war. Im Laufe der Jahre war es zu einer Gewissheit geworden, und sie zählte die verbleibenden Lebensjahre. Ihre Lebensfreude wich einer starken Todesangst, und im 46. Lebensjahr entwickelte sie schließlich eine Depression in Anbetracht ihres vermeintlich bevorstehenden Todes. Erst als sie die magische Grenze des Todesalters ihrer Mutter erreicht hatte, als sie sogar ihren 47. Geburtstag feierte, löste sich ihre fatale Überzeugung langsam auf. Sie freute sich wieder auf das Leben, das noch vor ihr lag und das sie nun losgelöst von einem unbewussten Todesfluch genießen konnte.
Natürlich sind familiäre Wiederholungen nicht immer an bestimmte Zeitpunkte gebunden. Aber das Wissen um kritische oder traumatische Zeitpunkte und Phasen im Leben unserer Vorfahren kann uns dafür sensibilisieren, nicht in alte, destruktive Verhaltensweisen zu verfallen oder die Fehler unserer Vorfahren zu wiederholen. Das Wissen um die Vergangenheit kann uns helfen, unsere Gefühle von den Ursprungsereignissen und den betroffenen Personen zu lösen. Das Bewusstsein für Jahreszeiten-Reaktionen kann Auslöser dafür sein, ein heilsames Ritual einzuführen, beispielsweise der Toten oder Unglücklichen zu gedenken, ihnen einen bewussten Platz in unserer Erinnerung einzuräumen, der sie würdigt, ohne dass aber unser eigenes Leben beeinträchtigt, behindert oder zerstört wird.
Nicht immer hilft uns das Wissen um die familiäre Vergangenheit, aus einer ungünstigen familiären Verstrickung herauszutreten. Manchmal scheint es, als laste ein Fluch auf Familien, den Lebensweg eines unglücklichen Vorfahren zu wiederholen. In diesen Fällen ist die Verletzung des Familiengewebes so tief greifend, die unbewusste Loyalität so stark, dass Nachkommen in die Fußstapfen ihrer Ahnen treten. So entstehen Generationen von leidvollen Lebensläufen – Menschen werden wie ihre Vorfahren psychisch krank, alkohol- oder drogenabhängig, sie werden gewalttätig oder kriminell. Sie ahmen ihre Eltern oder andere Familienmitglieder unbewusst nach und folgen ihnen ins Verderben. Manchmal folgen sie ihnen sogar in den Tod.
Familiäres Erbe Suizid
»Bewahrt uns vor Flinten und dem Selbstmord der Väter
[…] Erbarmen! mein Vater; drück nicht auf den Abzug
Oder ich werde mein Leben lang leiden an deiner Wut
und töten, was du einst begannst.«
JOHN BERRYMAN , »Dream Song #235«
John Berryman wusste, wovon er schrieb. Sein Vater erschoss sich vor seinem Kinderzimmer, als John zwölf Jahre alt war. Mit 17 Jahren beging John den ersten Suizidversuch. Mit 58, nach einem turbulenten Leben, einer erfolgreichen Lyriker- und Hochschulkarriere, sprang der depressive und schwer alkoholabhängige John Berryman von einer Brücke und »tötete, was der Vater einst begann«.
Suizide haben eine unheimliche Sogwirkung. Sie stoßen ab, sie faszinieren. Sie werfen 1000 Fragen auf und machen zugleich sprachlos. Ein Suizid ist für die Hinterbliebenen sehr schwer zu verwinden, weil sie nicht nur mit der Trauer und dem Verlust eines Menschen konfrontiert sind, sondern auch mit Schuld- und Schamgefühlen, mit Wut und Enttäuschung. Die Wucht eines Suizids ist auch noch Generationen später in Familien spürbar, und es ist,
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