Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
als sei eine Tür aufgestoßen worden, durch die auch weitere Familienmitglieder gehen können – der Suizid gehört nun zum familiär erprobten Handlungsinventar, zur übernommenen Lösungsstrategie, zum legitimierten Ausweg aus einem unglücklichen Leben. Tatsächlich findet man in der Familiengeschichte von Suizidopfern häufig weitere Fälle von Selbsttötungen. Mitunter ähneln sich die Suizidarten, auch Todesdaten oder das Alter der Suizidenten wiederholen sich über Generationen hinweg.
Lange Zeit dachte man deshalb, dass es eine Veranlagung zum Selbstmord gäbe. Heute wissen wir, dass es kein »Suizidgen« gibt und dass Suizidalität nicht vererblich ist. Allerdings leiden über 80 Prozent aller Suizidopfer unter psychiatrischen Erkrankungen, die genetisch übertragen werden können, wie beispielsweise Depressionen. Neben einer genetischen Veranlagung bedarf es jedoch weiterer ungünstiger biografischer Faktoren, um an einer Depression zu erkranken und schließlich Suizidgedanken zu entwickeln. Grundsätzlich häufen sich Suizide in Familien, in denen das Werkzeug fehlt, mit Krisen und Konflikten konstruktiv umzugehen. Stattdessen imitieren die Nachkommen mehr oder weniger unbewusst das suizidale Verhalten ihrer Vorfahren.
Gunter Sachs erschoss sich wie sein Vater, beide waren an Depressionen erkrankt. Margaux Hemingway folgte dem Beispiel ihres Urgroßvaters, ihres Großvaters und seiner zwei Geschwister, als sie sich am Todestag ihres Großvaters Ernest Hemingway das Leben nahm. Wie Ernest litt sie unter Depressionen und war alkohol- und medikamentenabhängig.
Nicholas Hughes, der Sohn der Schriftstellerin Sylvia Plath, erhängte sich 46 Jahre nach dem Suizid seiner Mutter. Wie sie hatte er jahrelang unter Depressionen gelitten. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er in seiner Kindheit eine weitere Tragödie erlebt, als seine Stiefmutter sich gemeinsam mit seiner Halbschwester auf die gleiche Art das Leben nahm wie einige Jahre zuvor seine Mutter.
Auch die Schriftstellerin Linda Gray Sexton blickt auf eine tragische Familiengeschichte zurück: Alkohol, Depressionen, psychische Zusammenbrüche, Suizide, familiärer Missbrauch und Gewalt ziehen sich durch mehrere Generationen. Linda ist die Tochter der berühmten US-amerikanischen Lyrikerin Anne Sexton, die sich im Alter von 45 Jahren nach unzähligen Suizidversuchen in ihrem Auto mit Abgasen vergiftete. Ihr Leben lang hatte Anne Sexton unter schweren Depressionen und psychotischen Schüben gelitten, die sie durch Alkohol und Schreiben zu lindern versuchte.
Werfen wir einen genaueren Blick auf die Familie Sexton, um die transgenerationalen Auswirkungen von psychischen Erkrankungen, traumatischen Kindheitserfahrungen und Suizidneigungen besser zu verstehen: Die heute knapp 60-jährige Linda wird noch immer vom Leben und Sterben ihrer Mutter verfolgt. In zwei Autobiografien versuchte sie, ihre Erfahrungen als Kind einer psychisch schwer gestörten Mutter zu verarbeiten. Sie beschreibt die in solchen Familien typische Rollenumkehr: wie sie sich in ihrer Kindheit und Jugend ständig um ihre Mutter sorgte und kümmerte, stets in Angst vor weiteren Krankheitsschüben und Selbstmordversuchen. Sie beschreibt die grausamen und lieblosen Seiten der Mutter, die die Bedürftigkeit ihrer Tochter nicht ertrug, weil sie selbst so bedürftig war. Sie erinnert sich an Spiele, in denen die Mutter einforderte, Kind sein zu dürfen, während Linda sich um sie wie eine Mutter kümmern sollte. In den schlimmsten Phasen kam es zu extremen Grenzverletzungen, in denen die Mutter eigene Missbrauchserfahrungen mit Linda wiederholte. Anne Sexton misshandelte und missbrauchte ihre Tochter, die sie im Gegenzug fürchtete und verehrte und sich das wünschte, was jedes Kind braucht und will: von der Mutter geliebt zu werden.
Linda begann erst im frühen Erwachsenenleben, sich von ihrer Mutter zu distanzieren und ihr eigenes Wohlbefinden erstmalig über das ihrer Mutter zu stellen. Sie, die so lange »die Verlängerung« ihrer Mutter gewesen war, dankbar für jeden Krumen Aufmerksamkeit, den ihre Mutter ihr hinwarf, begann diese zu hassen. Linda war 21 Jahre alt, als ihre Mutter sich das Leben nahm. Im Rückblick auf den Suizid ihrer Mutter bekennt sie, dass sie das Ende ihrer Mutter herbeigesehnt hatte:
»Ich habe mir gewünscht, dass meine Mutter stirbt. Sosehr ich mich vor ihrem Selbstmord auch fürchtete, sehnte ich ihn doch herbei. Ich wünschte mir die Befreiung von der Tyrannei
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