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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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ihrer vielen Neurosen, die, wie es in diesem letzten Jahr den Anschein hatte, vollkommen Oberhand über ihre Persönlichkeit gewonnen hatten. In diesem letzten Sommer mochte ich sie nicht mehr. Anne war ihre psychische Erkrankung. Nur gelegentlich erkannte ich durch die Ansprüche dieses lauten Kindes in Erwachsenenkleidern hindurch noch einen Schimmer ihres Strahlens. Die Frau, die ich geliebt hatte, war schon verschwunden« (Linda Gray Sexton, Auf der Suche nach meiner Mutter ).
    Doch auch nach dem Tod der Mutter kehrt in Linda kein Frieden ein. Stattdessen greifen die Depressionen, die einst zur Mutter gehörten und diese quälten, nun auch mit Krakenarmen nach ihr. Die begonnene Ablösung von der Mutter wird durch deren Tod gestoppt, nicht zuletzt, weil Anne ihre Tochter Linda als Nachlassverwalterin ihres Werkes eingesetzt hatte. Diese Aufgabe erfüllte Linda, die intensive Beschäftigung mit den Texten, Tagebüchern und Psychotherapiemitschnitten der Mutter wühlte die Tochter aber auch auf, verstörte sie.
    Linda versucht trotz ihrer Verletzungen ein faires Bild der Mutter zu zeichnen und sie nicht zu verurteilen, sondern als Produkt der vielen transgenerationalen Übertragungen zu verstehen. Anne sei mit ihrem Verhalten lediglich »in zwanghafter und rachsüchtiger Wiederholung dem roten Faden ihrer eigenen Kindheit« gefolgt. Linda besteht auf einer differenzierten Sicht und einer bedingungslosen töchterlichen Liebe:
    »Ich liebte meine Mutter, als sie lebte; ich liebe sie immer noch – trotz des Zorns, trotz ihrer psychischen Erkrankung und der Dinge, die zu tun sie ihr gestattete. […] Sie war liebevoll und gütig, aber sie war auch krank und destruktiv. Sie wollte ›eine gute Mutter‹ sein, doch sie war keine« (Linda Gray Sexton, Auf der Suche nach meiner Mutter ).
    Linda sucht ihr Heil in ihrer eigenen Familie, sie heiratet und möchte Mutter werden. Als sie drei Fehlgeburten in Folge hat, verzweifelt sie fast an ihrer Trauer. Als sie unerwartet das vierte Kind doch austrägt, sind die ersten Momente der Mutterschaft voller Freude, und sie wirft einen verachtenden Blick in die Vergangenheit, in der es ihrer eigenen Mutter nicht gelungen war, den Bedürfnissen eines Säuglings gerecht zu werden. Doch nach kurzer Zeit holen sie die Vergangenheit und das familiäre Erbe ein. Linda, die dachte, »ein bisschen Anstrengung und Selbstdisziplin« würden ausreichen, um in eine vorbildliche Mutterrolle zu schlüpfen, musste feststellen, dass sie ebenso wie ihre Mutter geprägt war von »genetischen und gelernten Codes«, die sich nicht einfach, auch nicht mit der größten Willensanstrengung – weder beim ersten noch beim zweiten Kind –, auslöschen ließen. Und so wiederholte Linda besonders mit ihrem älteren Sohn viele ihrer traumatischen Kindheitserinnerungen. Bis heute bedauert sie, ihren Sohn ihren alten, nicht verarbeiteten Gefühle ausgesetzt zu haben.
    Immer wieder sehnt Linda sich nach einer »guten« Mutter, die ihr als Vorbild und Stütze dienen könnte. Und immer wieder muss sie feststellen, dass ihr Vorhaben, sich besser als ihre Mutter zu verhalten, scheitert. Sie übernimmt die mütterlichen Depressionen, die Wut, die Alkoholsucht, die Medikamentenabhängigkeit. Sie übernimmt auch das familiäre Werkzeug Gewalt und schlägt ihre Kinder, wenn die Wut sie überwältigt. Mit 45 Jahren – im gleichen Alter, in dem ihre Mutter sich umbrachte – begeht Linda Gray Sexton ihren ersten Suizidversuch:
    »In meiner Jugend hatte ich davon geträumt, dass ich den familiären Kreislauf aus Suizid und Wahnsinn ebenso durchbrechen würde wie den Fluch, eine schlechte Mutter zu sein. […]
    Was für ein Schock herauszufinden, dass ich den gleichen schrecklichen Weg ging wie sie, trotz meiner Entschlossenheit, dass dies nicht passieren würde. Nicht nur um meiner selbst willen, sondern um meiner Kinder willen« (Linda Gray Sexton, Half in Love ).
    Lindas Todessehnsucht ist gleichzeitig auch die Sehnsucht nach ihrer Mutter, das Hinabgleiten in die schweren Depressionen die Verschmelzung mit dem alten Mutterbild. Später wird Linda mithilfe ihrer Therapeutin die emotionale Bedeutung ihrer Selbstmordversuche erkennen:
    »Ich wollte nicht, dass sie [die Mutter] mich verlässt, ich wollte sie nicht verlassen.«
    Linda Gray Sexton ergeht es wie vielen Menschen – es gelingt ihr nicht, den dunklen, schweren Teil ihrer Vergangenheit abzuschütteln, und so fügt sie ihren Kindern die gleichen seelischen Wunden

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