Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
zu, die ihr selbst als Kind beigebracht wurden.
Linda tritt in vielerlei Hinsicht in die Fußstapfen ihrer Mutter, sie versucht verzweifelt wie diese einstmals, ihr Leben und ihre Stimmungen durch ihre Arbeit als Schriftstellerin in den Griff zu bekommen. Sie schreibt wie ihre Mutter autobiografisch und schonungslos offen. Es gelingt ihr jedoch nie, sich von der Mutter und deren Einfluss zu lösen – Lindas Werke leben vor allem durch die Tragik ihrer Kindheitserfahrungen und die Referenzen auf die berühmte, kranke Mutter.
Linda Gray Sexton kämpft bis heute mit Medikamenten und Therapie gegen ihre Depressionen. Ihre beiden Söhne, von denen der jüngere übrigens am zehnten Jahrestag des Selbstmords seiner Großmutter Anne Sexton geboren wurde, sind inzwischen erwachsen. Linda schreibt an ihrer nunmehr dritten Autobiografie. Sie fragt sich in ihren Memoiren immer wieder, wie sehr auch ihre Söhne vom »Erbe des Suizids« betroffen sein mögen.
Ihre Sorge ist nicht von der Hand zu weisen, denn während bereits der natürliche Tod eines Elternteils für ein Kind nur schwer zu verwinden ist, markieren Suizidversuche und Suizide oftmals den tragischen Höhe- oder Endpunkt von psychischen Erkrankungen und hinterlassen eine extreme Wunde im familiären Gewebe, die Generationen später noch spürbar ist.
Wolfgang nahm sich das Leben, als sein Sohn Steffen drei Jahre alt war. Steffen wusste später weder das genaue Geburts- noch das Todesdatum seines Vaters oder unter welchen Umständen dieser ums Leben gekommen war, aber er würde nie die Summe der Schulden vergessen, die der Vater hinterlassen hatte. Steffens Mutter weigerte sich, mit ihrem Sohn über den verstorbenen Vater zu sprechen, ihre Enttäuschung und ihre Verbitterung veranlassten sie nur zu einer Antwort: »Dein Vater hat Schande und Armut über uns gebracht.«
Steffen durfte nicht trauern, er durfte sich nicht identifizieren mit den guten Anteilen des Vaters, er durfte keine Fragen stellen, wie sein Vater war und warum er nicht mehr da war. Er ahnte, dass sein Vater keines natürlichen Todes gestorben war, und quälte sich mit Phantasien über dessen letzte Stunden. Steffen lernte: Wer einen Fehler macht, stirbt und wird behandelt, als wäre er nie da gewesen, als wäre er nie Teil der Familie gewesen. Steffen kannte ein Leben mit Einbahnstraßen: Wer sich einmal verfahren hatte, kam nicht mehr heraus.
Steffen wurde erwachsen, heiratete, bekam ein Kind, gründete eine Firma, machte Schulden. Irgendwann – nach vielen Fehlinvestitionen – sah er keinen Ausweg mehr. Er verschwand eines Nachts und legte sich auf die Bahngleise. Er starb, um seine Familie abzusichern: Anders als sein Vater hinterließ er seiner Familie keine Schulden, sondern eine Lebensversicherung, die wenige Tage vor seinem Suizid in Kraft getreten war.
Steffen wiederholte unbewusst das Leben und Sterben seines Vaters, gleichzeitig versuchte er, seine Familie zu retten, indem er sich für sie opferte. Ohne Auszahlung der Lebensversicherung hätte seine Familie einen empfindlichen sozialen Absturz erlitten. Schande und Armut waren die Wunden seiner Mutter und seiner eigenen Kindheit. Der Verlust des Vaters schwelte in ihm, und da es nichts gab, mit dem er sich identifizieren konnte, blieb der Tod als einziger Bezugspunkt, um dem Vater ähnlich zu sein, ihm nahezukommen. Steffens Witwe Annika braucht lange, um sich von ihrer Trauer und ihrer Wut auf ihren Mann zu erholen. Sie fühlt sich im Stich gelassen, die finanzielle Sicherheit bedeutet ihr wenig im Vergleich zum Leben ihres Mannes. Im Rückblick erkennt sie, wie verzweifelt Steffen gewesen sein muss, ohne das Bewusstsein für Handlungsalternativen.
Ihre Schwiegermutter erwähnt bei der Beerdigung, dass Steffens Vater sich auf eine ähnliche Weise umgebracht habe und dass die Männer dieser Familie einfach nicht mit Geld umgehen könnten. Annika erschrickt über diese Parallele und beginnt, bei ihrem Sohn Max nach Anzeichen des väterlichen Erbes zu suchen. Sie fängt an, seinen Umgang mit Geld zu bewerten, und warnt ihn, dass sein Vater immer über seine Verhältnisse gelebt habe. Immer wieder dient der Vater als Abschreckung, er sei unzuverlässig, in sich gekehrt, verantwortungslos gewesen. Wenn Max Kummer hat, bedrängt sie ihn, sich ihr mitzuteilen, aus Angst, er könne ebenso wie sein Vater suizidale Tendenzen entwickeln, ohne dass sie es bemerken würde.
In der Pubertät beginnt Max, gegen die Bewertungen seiner Mutter zu
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