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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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statt des erhofften Mädchens ein Junge – Tatianas Großvater – geboren wurde, verschloss sie die Augen vor seinem Geschlecht. Ihre unbewältigte Trauer und Enttäuschung über »das falsche Geschlecht« führte dazu, dass sie ihren Sohn wie ein Mädchen behandelte. Auf dem abgeschiedenen Gut der Familie wuchs der Junge die ersten Jahre wie ein Mädchen auf. Er trug Kleidchen, Häubchen, lange Haare. Tatiana hat Fotos, die diese Misshandlung an ihrem Großvater zeigen. Erst mit dem Schulanfang darf er Junge sein, weil die Leute sonst zu reden angefangen hätten.
    Eine tragische Familiengeschichte offenbart sich in der transgenerationalen Betrachtung: Eine Mutter verliert ihr erstgeborenes Kind. Ein Junge wird von seiner Mutter emotional missbraucht und in seiner Geschlechtsidentität verwirrt. Eine Generation später missbraucht er seine Tochter und rächt sich so stellvertretend an seiner Mutter. In der dritten Generation nimmt Tatiana die alten Verletzungen in sich auf. Ihr Körper drückt symptomatisch aus, was nie wieder passieren darf: Nie wieder darf ein anderer sich des eigenen Körpers bemächtigen, so wie es ihrem Großvater und ihrer Mutter geschah.
    Tatiana sortiert ihre Gefühle im Laufe der Zeit. Sie leidet für ihre Mutter, die so lange versucht hat, sie vor der Wahrheit zu schützen. Sie fühlt das Unrecht, das ihrem Großvater widerfahren ist, als er den Platz seiner verstorbenen Schwester einnehmen musste und sich nicht normal entwickeln durfte. Sie trauert um die früh gestorbene Tochter ihrer Urgroßmutter. Stellvertretend für ihre Vorfahren widmet sie sich den alten Lasten, die verdrängt, verschwiegen und weitergegeben wurden. Dieser innere Prozess kostet sie viel Kraft. Aber er macht sie auch stärker und hilft ihr, sich aus ihren familiären Verwicklungen zu lösen.
    Irgendwann sprechen wir weniger über die Vergangenheit, die durch das Bewusstwerden und Durcharbeiten an Macht verloren hat. Tatiana beschäftigt sich wieder mit ihrem ursprünglichen Problem und will es endlich hinter sich lassen. Sie wünscht sich nichts mehr, als wieder eine Beziehung zu einem Mann einzugehen, »aber diesmal richtig«, wie sie sagt.
    Sie verliebt sich ein paarmal, aber sie spürt, dass es nicht das Richtige ist. Zwischendurch hat sie Angst, dass sie wie früher intime Kontakte vermeiden will und nur deshalb so wählerisch ist. Ich begleite sie in dieser Zeit und bestärke sie darin, nichts zu überstürzen, sondern nach ihrem Gefühl zu handeln. Sie beruhigt sich mit folgendem Scherz: »Jetzt bin ich seit 25 Jahren Jungfrau, da machen ein paar weitere Monate auch nichts mehr aus.«
    Zwei Jahre nach Beginn unserer Therapie, innerhalb deren Tatiana auch mit ihrer Gynäkologin die vaginalen Muskelverspannungen auf körperlicher Ebene gelöst hat, kommt sie eines Nachmittags in meine Praxis. Sie strahlt und wird ein bisschen rot, als sie verkündet: »Jetzt bin ich eine Frau.« Sie erzählt, dass sie mit ihrem Freund, mit dem sie seit ein paar Wochen zusammen ist, das erste Mal geschlafen hat, dass es toll war, vor allem, weil es geklappt hat, weil ihr Körper den Geschlechtsverkehr zugelassen hat.
    Tatiana hat sich gelöst von den schweren Verletzungen ihrer Vorfahren. Sie ist offen für eigene Erfahrungen. Sie ist den transgenerationalen Übertragungen entwachsen.
    Manchmal schützt uns auch das Wissen um die familiäre Vergangenheit nicht davor, alte Gefühle in uns aufzunehmen, das Verhalten oder gar den Lebensweg eines Vorfahren zu wiederholen. Erst wenn dem Wissen ein Verstehen folgt, wenn die Gefühle zugeordnet werden können und das Unbewusste bewusst wird, können wir uns lösen und heraustreten aus einem Kreislauf der transgenerationalen Gefühlsübertragung – wie Helen, die eine Weile brauchte, bis sie den Hintergrund ihrer Albträume verstand.
    Die 28-jährige Helen litt seit der Geburt ihres Kindes unter schrecklichen Albträumen. Immer wieder träumte sie, dass ihr kleiner Sohn verschüttet werden würde und sie ihm nicht helfen könne. Manchmal stand sie nachts auf und vergewisserte sich, dass ihr Sohn in seinem Bettchen friedlich schlief und ruhig atmete. Am Morgen nach den Träumen war sie von Traurigkeit und Hilflosigkeit beschwert.
    Am 13. Februar 2010 schaltete Helen abends nach einem anstrengenden Tag den Fernseher ein. Vor dem Schlafengehen wollte sie sich noch ein wenig entspannen, vielleicht eine amerikanische Krimiserie schauen. An diesem Abend wurden auf mehreren Sendern

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