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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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Ben. Was ist hier passiert? Hat Ben tatsächlich die »gewalttätigen Gene« des Großvaters geerbt, wie Lisa vermutet? Ich frage Lisa, die zart und sanftmütig wirkt, wie sie selbst mit Aggressionen umgehe. Lisa bekennt, dass sie manchmal im Umgang mit Ben überfordert sei und Jähzorn in sich aufsteigen fühle, diesen aber sofort unterdrücke und im Anschluss betont freundlich zu ihrem Sohn sei. Sie fühle sich in solchen Momenten wie eine schlechte Mutter, weil eine gute Mutter niemals so wütend auf ihr Kind werden würde. Ich erfahre, dass Lisa ihrem Sohn schlecht Grenzen setzen kann. Aus Angst, zu aggressiv eine Grenze zu ziehen oder übergriffig wie ihr Vater zu sein, vermeidet sie es grundsätzlich, in Konfrontation mit ihrem Sohn zu gehen.
    Ihren Mann erlebe sie im Umgang mit Ben als viel zu streng. Zwischen ihm und Ben gäbe es regelrechte Machtkämpfe, die sie oft unterbreche, weil sie nicht wolle, dass Ben sich unterdrückt fühle. Ihr Mann reagiere auf ihre Einmischung in seine Erziehung gekränkt und wütend, und es gebe immer häufiger Streit, was sie zusätzlich sehr bedrücke.
    Lisa möchte alles richtig machen und eine gute Mutter sein. Und das bedeutet für sie, alles anders zu machen als ihre Eltern. Allerdings hat Lisa ein irreales und unvernünftiges Bild einer »guten Mutter« im Kopf, das sie dazu bringt, ihre eigenen Gefühle und Grenzen zu übergehen und ihre Schuldgefühle mit Überverwöhnung zu kompensieren. Mit ihrem Verhalten verunsichert sie ihren Sohn, der immer verzweifelter nach Halt und Orientierung sucht.
    Eins ist an diesem Punkt klar: Ben hat nicht die Gewalttätigkeit seines Großvaters geerbt – er ist vielmehr das Opfer seiner liebevollen, aber grenzverweigernden Mutter, die trotz bester Intentionen ihre Mutterrolle nicht ausfüllen kann.
    Kinder sind von absoluter Freiheit überfordert, sie brauchen Grenzen und Halt, verbindliche Elternfiguren, die ihnen Sicherheit und Orientierung geben. Was Lisa versuchte, mit Sanftheit und Liebe zu geben, frustrierte den kleinen Ben, der keine Reibung erfuhr und sie sich schließlich »gewalttätig« holte. Als Lisa bewusst wurde, welchen Anteil sie an Bens Aggressionen hatte, war sie erschrocken, aber motiviert, ihre blinden Flecken zu bearbeiten und ihr Verhalten zu ändern.
    Gemeinsam näherten wir uns Lisas kindlichen Gefühlen von Ohnmacht, aber auch ihrer ungeheuren Wut, die sich aufgestaut hatte und die sie seit jeher unterdrückt hatte, um ja nicht ihrem Vater ähnlich zu werden. Das Zulassen dieser alten Wutgefühle war ein Stück des Weges, den sie zurücklegen musste, um zu erkennen, dass man Wut fühlen kann, ohne zerstörerisch handeln zu müssen. Sie erkannte, dass Ben einen Teil ihrer unterdrückten Wut übernommen und ausgedrückt hatte, sodass Lisa die Gefühle nicht bei sich selbst spüren, sondern – wieder als hilfloses Opfer – bei ihrem Sohn mitansehen musste. Als sie diese Zusammenhänge verstand, konnte sie ihre Mutterrolle vollständiger ausfüllen und Ben aus der Rolle des kleinen Gewalttäters entlassen.
    Lisa dachte in den Sitzungen immer mehr darüber nach, ob es einen Mittelweg zwischen roher Gewalt und gar keinen Grenzen gebe, und gab sich schließlich die Erlaubnis, liebevolle und für Ben wichtige Grenzen zu setzen. Gemeinsam erarbeiteten wir einen Katalog gesunden mütterlichen Abgrenzungsverhaltens, den Lisa Schritt für Schritt umsetzte. Ben entspannte sich sichtlich, und seine scheinbar unwillkürlichen Aggressionen verschwanden bald in Anbetracht seiner Erfahrungen mit seiner Mutter, die er verbindlicher und authentischer erlebte. Lisa war überrascht und erfreut über die schnelle Verhaltensänderung ihres Sohnes, die sie ermutigte und unterstützte, ihm weiter angemessene Grenzen zu setzen.
    Robert und Lisa sind Beispiele dafür, welche Auswirkungen familiäre Gewalt haben kann und wie wichtig es ist, sich zunächst den eigenen Verletzungen zuzuwenden, den eigenen Gefühlen von Ohnmacht und Wut, damit man anschließend Verantwortung für sein Verhalten übernehmen kann. Wer seine Bedürfnisse und seine Gefühle verdrängt und verleugnet, der bleibt in der Rolle des misshandelten Kindes stecken oder wird selbst zum Täter in irgendeiner Art. Erst wenn wir unsere verletzten kindlichen Anteile gesehen und getröstet haben, können wir uns und andere vor weiterer Gewalt schützen.
    Wenn sich das emotionale Erbe im Verhalten ausdrückt, kann man es über die Generationen hinweg zurückverfolgen wie im

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