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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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Dokumentationen über den Bombenkrieg in Dresden gezeigt. Trotz ihrer Müdigkeit starrte Helen wie gebannt auf die Bildscheibe, hörte Zeitzeugen bei ihren Erinnerungen zu, sah Gebäude durch die Bomben in sich zusammenfallen und die Flammen aus den Häusern schießen.
    Eine tiefe Traurigkeit nahm Besitz von ihr und dieselbe ohnmächtige Verzweiflung, die sie aus ihren Albträumen kannte. Ihr fiel ein, dass ihr Großvater bei den Bombenangriffen seine erste Frau und seine zwei kleinen Kinder verloren hatte. Obwohl dieser Fakt in der Familie bekannt war, wurde doch nie darüber gesprochen. Niemand hatte gewagt, den Großvater auf Details seiner Vergangenheit oder auf seine Gefühle anzusprechen. Und so wurde die Trauer des Großvaters wie in einem Vakuum verpackt über die Generationen hinweg weitergegeben. Alle wussten um die Vergangenheit, aber niemand fühlte sie.
    Plötzlich verstand Helen die Bedeutung ihrer Albträume: Seit sie selbst für ein Kind Sorge trug, hatte die Sachinformation über den Verlust der ersten Familie des Großvaters eine emotionale Färbung erhalten, und die familiär verdrängten Gefühle hatten sich in ihr Unbewusstes und in ihre Träume geschlichen.
    In dieser Nacht fand Helen keinen Schlaf. Sie gedachte ihres verstorbenen Großvaters, fühlte sich in sein Entsetzen ein, als er erfuhr, dass seine Familie ums Leben gekommen war. Dass er sie nicht hatte retten können und nun allein zurückgeblieben war. Sie weinte, stundenlang, und trauerte um den Teil der Familie ihres Großvaters, der verschüttet worden und gestorben war in der Dresdner Bombennacht vor genau 65 Jahren.
    Am nächsten Morgen rief Helen ihren Vater an und erzählte ihm von ihrer durchweinten Nacht und ihren Albträumen. Helens Vater war sehr betroffen. Nie hätte er gedacht, dass die Vergangenheit auch seine Tochter belasten würde. Die beiden führten ein langes Gespräch, und Helens Vater offenbarte ihr, dass auch er oft an die Verstorbenen denken müsse und er sich zudem immer schuldig gefühlt habe, weil er sein Leben in gewisser Weise dem Tod der ersten Familie seines Vaters verdanke. Er habe deshalb versucht, seinem Vater möglichst wenig Kummer zu machen und die Vergangenheit zu vergessen, möglichst wenig daran zu denken und nicht darüber zu sprechen.
    Es gibt Erlebnisse, die so tief gehend, so verletzend, traumatisch und schmerzhaft sind, dass sie in einem Leben nicht verarbeitet werden können. Die unverdauten Gefühle werden dann an die nächsten Generationen weitergegeben, bis sie in die Familiengeschichte integriert und verarbeitet werden können. Manchmal gelingt es erst der Enkelgeneration, die alten Lasten abzulegen. Helens Großvater und Helens Vater trugen neben unbewältigter Trauer auch an Schuldgefühlen, der Großvater, weil er seine Familie nicht hatte retten können, Helens Vater, weil er sein Leben als Konsequenz des Todes der ersten Familie seines Vaters sah.
    Helen war die Erste, die sich dem familiär verdrängten Gefühlskonglomerat nähern und es schließlich auflösen konnte, weil sie sich mit der Trauer und nicht mit der Schuld identifizierte, die sowohl ihrem Großvater als auch ihrem Vater eine Verarbeitung des familiären Traumas erschwert hatte. Nachdem Helen ihre Albträume mit dem Schmerz ihrer Vorfahren in Zusammenhang gebracht hatte und stellvertretend für diese um die Vergangenheit getrauert hatte, konnte sie sich von den übertragenen Gefühlen befreien. Die Albträume kehrten nicht wieder.
    Wenn ein altes Trauma, wenn der Schmerz unserer Vorfahren gefühlt und anschließend zugeordnet werden kann, verringert sich die Macht der alten Gefühle. Trauer kann sich erst verwandeln und schwächer werden, wenn wir sie zulassen. Wer seine Trauer in sich verschließt, sie unterdrückt, den wird sie beschweren. Wie ein Gift wird sie weiterwirken, über Generationen hinweg, wie bei Helen, die das alte Grauen und die abgewehrte Trauer in ihren Träumen wieder und wieder erlebte.
    Das nationalsozialistische Erbe – Schuld und Scham
    »Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen
einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer begeben, findet ihre Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert. […] Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste Symptom einer

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