Das Blumenorakel
als der Hunger durch die Fenster gelugt hatte, konnte die Familie jede Mark gut gebrauchen. Endlich gab es keine eintönigen Kraut- und Rübengerichte mehr. Keine dünnen Suppen oder pampigen Haferbrei. Dafür Würste, Sülzen, Fleisch und Fisch, Eier und andere Leckereien.
Die reichen russischen Gäste waren zwar bereit, viel Geld auszugeben, verlangten dafür jedoch allererste Qualität, das erkannte Flora sehr schnell.
Wehe, irgendwo in einem Blumenarrangement zeigte sich ein schlaffes Blättchen. Oder wehe, eine Blüte welkte im warmen Licht der vielen Kerzen dahin. Dann war es vorbei mit der Freundlichkeit. Etliche Auftraggeber bestanden sogar darauf, dass Flora während ihrer Festivitäten anwesend war, damit sie im Verlaufe eines Abends die Blumenarrangements immer wieder mit Wasser besprühen, hier ein welkes Blatt abzupfen und da eine schwächlich wirkende Blüte durch eine frische ersetzen konnte.
Flora störte dieser Mehraufwand nicht. Ihr machte es vielmehr SpaÃ, von einer Hintertür oder einem abseits gelegenen Winkel aus ihre Blumendekorationen im Blick zu haben und gleichzeitig das festliche Treiben beobachten zu können. Jedes Detail versuchte sie sich zu merken, damit sie Ernestine, die jede ihrer Erzählungen aufsaugte wie ein Schwamm, am nächsten Morgen davon erzählen konnte.
Obwohl Flora stets unauffällig im Hintergrund blieb, kamen immer mal wieder Gäste kurz zu ihr, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln.
Konstantin Sokerov, der bulgarische Maler, war bei fast jedem Fest anwesend. Jedes Mal hoffte Flora, dass auch er sich ihr einmal nähern würde. Der Gedanke erregte sie im selben MaÃe, wie er sie ängstigte. Was sollte sie zu diesem gutaussehenden Mann sagen? Ob sie vor ihm einen Knicks machen musste, wie vor den älteren Gästen? Dabei würde sie sich seltsam vorkommen, immerhin war er höchstens ein paar Jahre älter als sie. Worüber würde sie mit ihm reden? Bestimmt fand er sie schrecklich langweilig â¦
Aber die Chance, dass Konstantin Sokerov überhaupt zu ihr durchdrang, war gering: Kaum betrat er einen Raum, war er umringt von etlichen Damen, die über seine Scherze zu laut lachten, rote Wangen bekamen und sich hektisch Luft zufächelten. Meist hing auch noch die Fürstin Stropolski an seinem Arm und lachte am lautesten über seine Witze.
Wie kann man sich nur so aufführen?, fragte sich Flora.
Meist war es nach Mitternacht, wenn Flora mit geschwollenen FüÃen und schmerzendem Kreuz, aber glücklich von solch einem Fest nach Hause kam.
Und dennoch war sie am nächsten Morgen, kaum dass es hell wurde, wieder auf den Beinen.
»Ich weià wirklich nicht, warum du das Blumenpflücken nicht endlich sein lässt und stattdessen ein bisschen länger schläfst«, sagte Ernestine eines Morgens, als Flora mit einem ganzen Arm voll Farnbüscheln in den Laden zurückkehrte. »Nachher kommt Gärtner Flumm â warum kaufst du deine Ware nicht allein bei ihm ein?«
»Weil die Wildblumen so etwas wie mein Markenzeichen geworden sind«, erwiderte Flora. »AuÃerdem sind viele davon in der Blumensprache sehr wichtig. Dieser Farn zum Beispiel â«Sie brach ab, weil die Ladentür aufging. Es war jedoch nicht der Gärtner, sondern ein Mann in Uniform.
Als Flora den Polizisten erkannte, der im Jahr zuvor von Else Walbusch in den Laden geschleppt worden war, stutzte sie für einen Moment, doch dann sagte sie lachend: »Dieses Mal habe ich aber niemanden vergiftet. Der Farn hier ist völlig harmlos, das kann ich Ihnen versichern.« Schwungvoll hievte sie die grünen Büschel, die sie auf einer kleinen Waldlichtung geschnitten hatte, in frische Wassereimer.
»Frau Sonnenschein, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass gegen Sie eine Anzeige wegen Waldschänderei erhoben wurde. Mir liegt eine Aussage vor, die besagt, dass Sie fast täglich entlang der Lichtenthaler Allee seltene Pflanzen abschneiden â¦Â«
»Habt ihrs gehört? Diese Anzeige habe ich den Weibsbildern vom Maison Kuttner zu verdanken!«, sagte Flora zu Ernestine und dem Gärtner Flumm, der kurz zuvor aufgetaucht war.
Gerade war die Ladentür hinter dem Polizisten zugefallen. Flora solle sich im Laufe des Tages auf der Wache einfinden, wo dann ihre Aussage aufgenommen werden würde, hatte der Mann gesagt. Und mit Grabesstimme hinzugefügt, dass
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