Das Blumenorakel
Hotel in Richtung Allee. Obwohl es erst Ende August war, hatte sich eine herbstliche Frische über die Stadt gelegt. In der Nacht waren Regenschauer niedergegangen, die StraÃen glänzten feucht, sodass man Obacht geben musste, nicht auszurutschen.
Flora schaute stur zu Boden. Sie wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Dennoch bemerkte sie, dass über ihr ein riesiger Schatten vorbeizog. Sie hob ihren Blick und sah, wie das Storchenpaar vom Kirchturm mit brausendem Flügelschlag über der Stadt kreiste.
Wehmütig sah Flora den beiden Vögeln nach. Wohin mochte die Reise sie führen? Hieà es nicht, viele Vögel würden für den Winter in wärmere Gefilde umziehen?
Die Störche waren die Ersten, die gingen. Aber bald würden die Kurgäste es ihnen gleichtun. Nizza, Monte Carlo, Paris.
Und dann?
Was würde aus Konstantin und ihr werden?
Noch hatte er sich bezüglich seiner Pläne für den Winter nicht geäuÃert. Und Flora traute sich nicht, ihn danach zu fragen. Würde er sie mitnehmen? Oder würde sie auf der StraÃe landen wie ein armseliger Landstreicher ohne Zuhause?
Flora riss jeden weiteren Gedanken aus ihrem Kopf, als handle es sich um lästiges Unkraut in einem Blumenbeet. Denn wehe, es fing erst einmal an zu wuchern â¦
Sabine hatte den Kinderwagen noch nicht zum Stehen gebracht, als Flora schon aus ihrem Versteck hinter einem Rosenbusch hervorschoss. »Mein Kind! Mein lieber, braver Alexander! Mein Bub â¦Â« Sie hob ihren Sohn aus dem Wagen, herzte und küsste ihn. Nur mit Mühe vermochte sie Tränen der Freude zu unterdrücken â Herr im Himmel, dass man einen Menschen so sehr vermissen konnte!
»Kommt es mir nur so vor oder ist unser kleiner Mann seit letzter Woche schon wieder ein Stück gewachsen?« Mutterstolz glänzte in Floras Augen, einen Moment lang hatte sie alles um sich herum vergessen.
»Ich weià nicht â¦Â« Sabine schaute sich unruhig um, schob den Kinderwagen ein Stück in die Wiese hinein. »Komm, lass uns lieber etwas abseits vom Weg gehen.«
»Es ist doch kaum eine Menschenseele unterwegs, bei dem Wetter liegen die Leute entweder noch im Bett oder sie vertrödeln ihre Zeit bei einem langen Frühstück«, murmelte Flora, der Sabines Blick nicht entgangen war.
»Na, du musst es ja wissen. Von wegen Zeit vertrödeln! Ich habe gewiss keine Zeit zu vertrödeln, ganz im Gegenteil, nachher wird Holz geliefert. Bestimmt werde ich den ganzen Vormittag mit Stapeln beschäftigt sein. Lange kann ich also nicht bleiben.«
Flora nickte schuldbewusst. »Dass du mir überhaupt den Buben bringst, Woche für Woche, das werde ich dir nie vergessen.« Schon drückte ein Kloà in ihrem Hals, doch sie würgte ihn weg.
»Das macht mir nichts aus, aber lass uns vorsichtig sein. Wenn mich jemand mit dir sieht und deinem Mann davon erzählt, dann gnade mir Gott.«
Unwillkürlich zog Flora ihr Kopftuch noch weiter in die Stirn. Ja, sie war wie eine Aussätzige. Jemand, mit dem man nicht gesehen werden wollte.
Die Wiesen entlang der Lichtenthaler Allee waren mit Abertausenden von glitzernden Spinnennetzen überzogen, und es war so feucht, dass sie nirgendwo eine Decke ausbreiten und sich niederlassen konnten. Sabine steuerte eine Parkbank unter einer Trauerweide an. »Hier sind wir vor neugierigen Blicken sicher«, sagte sie und lieà sich mit einem Plumps nieder. »Und? Wie ist nun das süÃe Leben?«
»Das süÃe Leben â¦Â« Flora lachte freudlos auf. Was sollte sie der Magd erzählen? Dass sie vor Langeweile fast starb? Dass sich jeder Tag anfühlte wie ein Jahr? Dass sie die meiste Zeit in diesem Hotelzimmer saÃ, versteckt wie etwas, für das man sich schämen musste? Eine Aussätzige. Auch bei Konstantins russischen Freunden.
»Die Leute würden es nicht verstehen, wenn wir als Paar auftauchten, so kurz nach Püppis Tod«, hatte er ihr gleich zu Beginn erklärt. »AuÃerdem, die Damen und Herren tun zwar alle furchtbar aufgeklärt, doch tief in ihren Herzen heiÃen sie die alte Ordnung gut, die besagt, dass die Ehe heilig ist und Mann und Frau nur unter ihrem Schutz zusammen sein dürfen. Was glaubst du wohl, wie wir zwei Ehebrecher angesehen würden? Sie würden uns davonjagen wie streunende Hunde!«
Flora hatte geglaubt, nicht richtig zu hören.
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