Das Blumenorakel
schwirrten durch die Nacht, die getränkt war vom Duft spätblühender Fliederbüsche und Maiglöckchen.
Sabine winkte ab. »Das ist nichts Besonderes, die Kurgäste feiern jeden Abend. Ich kenne eine, die ist Zimmermädchen im Englischen Hof. Was die immer zu erzählen hat â¦Â« Die Magd machte eine bedeutungsvolle Pause. »Stell dir vor, die Kurgäste essen schon am Morgen Gänseleberpastete und allerfeinstes weiÃes Brot! Oder Kaviar. Den bringen sie in goldenen Dosen aus Russland mit, sagt Konstanze.«
Gänseleberpastete ⦠Flora wusste, wie fein die schmeckte. Auch der Vater hatte schon mal ein Töpfchen mitgebracht.
»Diese Kurgäste â so genau weià ich immer noch nicht, was es mit denen auf sich hat. Der gnädige Herr sagte vorhin, diese Leute würden in den hiesigen Geschäften viel Geld ausgeben â aber das kann man doch nicht den lieben langen Tag machen. Und einen ganzen Sommer lang erst recht nicht! Irgendwas müssen sie doch arbeiten, oder?«
Sabine lachte. »Das denkst du! Konstanze erzählt mir da ganz andere Sachen ⦠Nach dem Frühstück gehen die Herrschaften erst einmal spazieren. Wenn du mal freihast, musst du dir das unbedingt anschauen. So schöne Kleider hast du noch nicht gesehen!« Die Augen der Magd glänzten sehnsüchtig. »Manchmal gehen die Leute tagsüber kurz in ihr Hotelzimmer zurück. Konstanze sagt, manche Damen kleiden sich bis zu fünf Mal am Tag um, und Zofen müssen ihnen dabei helfen. Und dann treffen sie sich mit anderen Gästen und essen und trinken. Oder sie gehen einkaufen. Oder ins Casino. Tja, und ab dem frühen Nachmittag müssen sich die gnädigen Herrschaften auf die groÃen Bälle und Festlichkeiten des Abends vorbereiten. Du siehst also: Ans Arbeiten denkt von denen dort keiner â¦Â«
10 . K APITEL
A m nächsten Morgen quälte sich Sabine unter Ãchzen und Stöhnen aus dem Bett. »Sechs Uhr, und noch nicht einmal ganz hell. Du hast es gut! Kannst liegen bleiben wie eine Dame, während ich jede Menge zu tun habe â den Herd anfeuern und Wasser warm machen und den Tisch decken, die Milch hereinholen und, und, und!« Sie spuckte in ihre Hände und fuhr sich damit übers Haar. Dann begann sie einen Zopf zu flechten.
Stirnrunzelnd schaute Flora in Richtung Fenster, durch das ohrenbetäubendes Gezwitscher hereindrang â die Vögel schienen wie sie kaum erwarten zu können, dass es endlich hell wurde.
»Ob dus glaubst oder nicht, ich würde auch am liebsten schon hinuntergehen. Aber ich soll mich vor dem Frühstück nicht blicken lassen.«
»Du bist ein undankbares Mädchen!«, nuschelte Sabine, den Mund voller Haarnadeln.
»Wenn du willst, stecke ich dir gern einmal die Haare hoch«, sagte Flora, die kaum mit ansehen konnte, wie ungeschickt sich Sabine mit ihrem Zopf anstellte.
Ihr war die Freude über Floras Angebot anzusehen. »Gern, wenn ich freihabe â vielleicht könntest du dann sogar eine Blume einflechten. Aber nun ⦠Wünsche, gut zu ruhen, gnädiges Fräulein!« Sie machte einen übertriebenen Knicks in Floras Richtung und polterte anschlieÃend die Treppe hinab.
Und nun? Flora streckte ihre Arme und Beine so lang, dass etliche Knochen knackten. Sollte sie einen Morgenspaziergang machen? Dabei konnte sie einige blühende Apfel- und Birnzweige für den Laden schneiden, auf ihrem Weg vom Bahnhof hierher hatte sie einige herrlich in Blüte stehende Bäume gesehen. So würde sie sich gleich an ihrem ersten Tag nützlich machen.
Andererseits â vielleicht war Herr Sonnenschein längst selbst unterwegs, um frische Blumen und Zweige zu holen?
Noch während sie darüber grübelte, tönten ihr plötzlich die Worte ihrer Mutter im Ohr.
»Dein Eifer in allen Ehren«, hatte Hannah einen Tag vor Floras Abreise gesagt, während sie deren Blusen und Röcke bügelten. »Aber spring nicht vor lauter Begeisterung kopfüber in jedes Wasser. Wir sind deine Umtriebigkeit gewohnt und mir persönlich ist ein fleiÃiger Mensch zehnmal lieber als ein fauler. Aber andere Leute stören sich vielleicht an zu viel Betriebsamkeit ⦠Man muss nicht immer alles anders machen, viele Dinge kann man auch einfach belassen, wie sie schon immer waren.«
»Du tust gerade so, als ob ich eine schreckliche Plage
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