Das Blumenorakel
zuvor kaum geschlafen hatte, fühlte sich Konstantin Sokerov an diesem Morgen so wach und frisch wie schon lange nicht mehr.
Noch war es still in der Stadt, rund um das Baden-Badener Conversationshaus war kaum jemand zu sehen. Lediglich ein paar Bänke weiter saà ein alter Mann und las Zeitung. Vor einem Café lud ein junger Kerl scheppernd Kannen von einem Milchwagen ab. Eine Frau, die Arme voller Blumen, blieb kurz bei ihm stehen. Sie wechselten ein paar Worte. Als das Milchwagenpferd nach ihren Blumenbüscheln schnappte, eilte die Frau lachend davon.
Konstantin sah ihr nach. Welche Leichtigkeit ihren Schritten innewohnte! Hinter all den Blumen hatte er ihr Gesicht nicht sehen können, aber bestimmt war sie jung und schön.
Es fiel ihm nicht schwer, in dem Blumenmädchen ein gutes Omen zu sehen. Er war am richtigen Ort â das spürte er mit jeder Faser seines Herzens!
Konstantin streckte sich, bis seine Glieder knackten. Auf dem langen Weg von Paris hierher war er ziemlich durchgerüttelt worden. An Mitfahrgelegenheiten hatte es ihm nicht gemangelt, zu seinem Erstaunen hatte er festgestellt, dass es noch immer viele Franzosen ins deutsche Kaiserreich zog â der Geschäfte und des Geldes wegen. Hatten die Kontrollen der Zöllner an den Grenzen deshalb so viel Zeit in Anspruch genommen? Vermuteten die Deutschen in jedem Reisenden einen französischen Rebellen, der sich nicht mit dem Ausgang des Krieges abfinden wollte? Eingehend war jedes Mal auch die Mappe mit Konstantins Bildern beäugt worden â die Landschaftsaquarelle und Bleistiftporträts hatten die Herren Grenzposten letztlich aber davon überzeugt, dass es sich bei ihm um einen harmlosen Kunststudenten handelte.
Konstantin zog einen Kamm aus der Tasche und begann seine Locken zu entwirren. Als er mit der Hand über seine Wangen fuhr, war es, als würde er über ein Reibebrett streichen â er benötigte dringend eine Rasur. AuÃerdem hatte er Hunger und Durst, die morgendliche Kälte war ihm in die Beine gekrochen und seine Blase drückte unangenehm.
Ungeachtet all dieser Unannehmlichkeiten lächelte Konstantin vor sich hin, während in den Bäumen ein paar Vögel ihr Morgenkonzert begannen. Sobald das Café öffnete, würde er eintreten. Sein Geld würde für ein petit déjeuner und eine Zeitung reichen. Unwillkürlich fuhr Konstantins Hand an die Innentasche seiner Jacke. Die Zigarre, die er seinem Reisegefährten stibitzt hatte, war noch da, genau wie das Bündel Geldscheine.
Der Mann würde sowohl den einen als auch den anderen Verlust zu verschmerzen wissen. Dass er nicht am Hungertuch nagte, hatte Konstantin gleich erkannt, als er zu ihm in die Kutsche stieg: Das Gefährt war gut gepflegt und von feiner Qualität. Die Pferde waren muskulös und gut gefüttert. Die Art, wie derMann gesprochen hatte, was er erzählte ⦠Konstantin kannte sich mit so etwas aus.
Es war zwar normalerweise nicht seine Art zu stehlen, aber angesichts seiner Notlage hatte Konstantin nicht wählerisch sein können.
So weit war es gekommen! Er schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken an die letzten Tage wie ein lästiges Insekt vertreiben.
Paris war weit weg. Nun galt es, den Ãrger mit Claudine, seiner Mitstudentin, schnell zu vergessen.
Die Zigarre würde er genieÃen, während er die Zeitung las. Bestimmt gab es in einem Kurort wie diesem ein Blatt, welches Auskunft gab über angereiste Gäste, über die Hotels, in denen sie abstiegen, die Konzerte, die es zu besuchen galt, Theaterstücke, die en mode waren.
Er würde sich rasch einen Ãberblick verschaffen. Er würde die richtigen Leute kennenlernen. Leute, die wussten, wie man das Leben feierte. Und die das nötige Kleingeld dafür hatten.
Adieu Paris! Bonjour Baden-Baden!
Arme Studenten, die ihr Leben brotlosen Künsten widmeten? Weibsbilder wie Claudine, die glaubten, einen Mann mit einem Balg unterm Herzen als Ehemann ködern zu können? Davon hatte er nun wirklich genug.
Konstantins Blick wanderte die lange, elegante Fassade des Conversationshauses entlang. Wie drängte es ihn danach zu sehen, was hinter der groÃen Eingangstür lag! Die groÃen Ballsäle. Das Casino. Vor allem das.
»Die Saison in Baden-Baden ist einzigartig« und »Wer Plaisir haben will, fährt nach Baden-Baden«. Wie oft hatte er in den letzten
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