Das Blumenorakel
Flora irgendwann in die Familie aufzunehmen. Ganz im Gegenteil.«
»Kuno!«
Dass ihre Tatkraft Ernestine schlaflose Nächte bereitete, ahnte Flora nicht. Und die Warnungen ihrer Mutter, sie solle sich nicht in alles einmischen, waren längst vergessen. Die Sonnenscheins schienen sich über Floras Einsatz zu freuen â Ernestine plante sogar ein Kaffeekränzchen im Gartenhaus! Selbst Sabine warangesichts dieser Idee sprachlos â so unternehmungslustig hatte sie die Hausherrin noch nie erlebt. Als Ernestine sie bat, für das »groÃe Ereignis« auÃer dem Hefezopf noch zwei Kuchen zu backen, murrte die Magd zwar ein wenig, aber im Grunde freute sie sich über das neu erwachende Leben im Haus.
Kaum waren die Bauarbeiten für die Wasserleitung vollendet und die StraÃe für FuÃgänger und Fuhrwerke wieder passierbar, platzierte Flora links und rechts neben dem Eingang zwei Zypressenbäumchen, die sie im hinteren Gartenteil ausgegraben hatte. Wirkten die Bäumchen in ihren schlichten Tonkübeln auch nicht ganz so spektakulär wie die rot belaubten Zierkirschenbäume vor dem Maison Kuttner, so waren sie dennoch hübsch anzusehen. Flora erhoffte sich dadurch bei den Passanten mehr Aufmerksamkeit für den Laden. Auch das in ihren Augen wenig ansprechende Schaufenster nahm sie sich vor: Während Kuno Zeitung las, entfernte sie diskret die verblichenen Werbezettel, dann platzierte sie ein kleines Tischchen ganz in der Nähe des Fensters. Die alte, etwas mottenzerfressene Tischdecke hatte sie in einem Schrankfach gefunden.
»Ein Tisch im Schaufenster?«, fragte Kuno Sonnenschein, kaum dass er Floras Treiben gewahr wurde.
»Ich möchte die Topfpflanzen darauf ausstellen, damit sie besser zur Geltung kommen«, antwortete Flora.
»Ich weià nicht â am Ende glauben die Leute, wir verkaufen jetzt Möbel«, murmelte Kuno. Doch trotz seiner Skepsis lieà er Flora gewähren.
Noch am selben Tag verkauften sie gleich sechs der bisher unbeachtet gebliebenen Topfveilchen.
»Ernestine, die Württembergerin hat Ideen, da kommt unsereins einfach nicht mehr mit«, sagte Kuno am selben Abend mit bewunderndem Unterton zu seiner Frau. Ernestine kräuselte die Stirn.
»Ãbertreibt sie es mit ihrem Eifer nicht ein bisschen? Das Mädchen dreht dir ja den ganzen Laden um!«
Kuno zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es höchste Zeit, dass sich bei uns überhaupt mal wieder etwas dreht.«
Ernestine fragte sich ernsthaft, ob ihrem Mann etwas fehlte â so launig kannte sie ihn nun wirklich nicht.
Obwohl Flora ihrem Blumenbeet im Garten täglich einen Besuch abstattete, würde es noch Wochen dauern, bis sich die ersten Blumen zeigten. Deshalb brach sie in ihrer zweiten Woche in Baden-Baden erneut vor dem Frühstück zu langen Spaziergängen auf, um Wildblumen zu pflücken. Mit Hilfe von kleinen Zeichnungen, die Kuno Sonnenschein ihr anfertigte, entdeckte sie entlang der Lichtenthaler Allee immer neue Wiesen und Uferstücke, wo sie ganze Bündel Storchenschnabel, Löwenzahn, Ehrenpreis und Wildrosen abschnitt â lauter Blumen, die sie kannte und bei denen es ganz gewiss zu keinem zweiten Giftpflanzen- und Spinnenfiasko kommen konnte.
Während sie mit morgentaunassen FüÃen und vollbeladenen Armen wieder in Richtung Stadt schritt, erwachte in den meisten Häusern erst das Leben. Fensterläden wurden geöffnet, auf dem einen oder anderen Balkon sah man einen Herrn stehen, der sich in der Morgenluft reckte oder schon eine Zigarre rauchte. Auf den Hotelterrassen klapperte Porzellan und klirrte Silberbesteck, da die Tische eingedeckt wurden.
Sehnsuchtsvoll starrte Flora auf die blütenweiÃen Leinendecken, in deren Mitte stets ein kleines SträuÃchen in einer Vase prangte. Wie gern hätte sie sich um den Blumenschmuck dieser feinen Hotels gekümmert! Sie hätte dicke Bündel Löwenmäulchen oder weià blühende Rosen gewählt. Sie hätte farbige Bänder eingebunden und â¦
Nichts als Hirngespinste, dachte sie ärgerlich, während sie die Blumen von einem Arm auf den anderen hievte. So vornehme Kunden würden sich ihre BlumensträuÃe gewiss nicht von einem Lehrmädchen binden lassen, wo sogar Kuno Sonnenscheins Kundschaft in der Regel darauf bestand, vom Chef bedient zu werden.
»Gräm dich nicht, die Leute gehen halt
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