Das Blumenorakel
Monaten solche Sätze zu hören bekommen! Baden-Baden â bald war es ihm wie das Paradies auf Erden erschienen.
Während Konstantin aufstand, um hinter dem Conversationshaus in den Büschen Wasser abzuschlagen, musste er an zu Hause denken. Ob Mutter schon wach war? War Vater vonseinen nächtlichen Vergnügungen nach Hause zurückgekehrt? Und wie ging es den Schwestern?
Zu Hause â das war Veliko Tarnovo, eine schöne mittelalterliche Stadt in Bulgarien, deren Häuser sich an steile Berghänge schmiegten, während unten im Tal die Jantra mäanderte. In früheren Zeiten war Veliko Tarnovo die Hauptstadt des Bulgarischen Reiches gewesen, noch heute waren die Bewohner stolz auf ihre Geschichte. Auf dem prestigeträchtigsten Hügel der Stadt â er trug den Namen Trapezica â lebten die Sokerovs in einem groÃen Haus, ja, es war fast schon ein kleiner Palast. AuÃer ihnen residierten auf diesem Hügel nur noch ein paar reiche Landbesitzer und die Geistlichkeit.
Als Konstantin und seine Geschwister zur Welt gekommen waren, hatte seine Familie zu den reichsten der ganzen Region gehört. Sein GroÃvater väterlicherseits hatte es auch unter der Herrschaft der Türken verstanden, die Geschäfte des Handelsunternehmens florieren zu lassen. Erst nach dem Tod des GroÃvaters war es abwärts gegangen â Konstantin war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt gewesen â, da der Vater die Geschäfte des Seiden-, Leinen- und Baumwollhandels übernahm. Elin Sokerov war ein schöner Mann â und dazu charmant, arrogant und nichtsnutzig. Er verscherzte es sich innerhalb kürzester Zeit derart mit den türkischen Machthabern, dass diese ihm jeden nur auffindbaren Stein in den Weg legten, wenn es ums Geschäft ging.
Warum hatte die Mutter den Vater nicht verlassen?, ging es Konstantin durch den Kopf, während er sein Bündel schulterte. Der Milchwagen bog gerade um die Ecke, vielleicht würde das Café nun öffnen?
Seltsam, dass er ausgerechnet jetzt an zu Hause dachte. Vielleicht lag es an Baden-Baden. Diese Stadt hätte seiner Mutter gefallen, dessen war sich Konstantin sicher. Aber Anna Sokerova würde wahrscheinlich nie mehr in ihrem Leben etwas so VerheiÃungsvolles zu sehen bekommen. Was allein ihre Schuld war.
Die Mutter war einst eine schöne Frau gewesen, und gebildetwar sie auch. Konstantin war noch heute davon überzeugt, dass sie damals, als es mit dem Geschäft bergab ging, leicht einen anderen, einen tüchtigeren Ernährer gefunden hätte. Der für sie und ihre Kinder besser gesorgt hätte. Der ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen hätte. Und die Wünsche ihrer Kinder ebenfalls.
Stattdessen hatte sie tausend Ausreden für das Versagen ihres Mannes gefunden. Einmal waren es die hohen Zölle, die ein gutes Geschäft zunichte machten, ein anderes Mal ein unzuverlässiger Geschäftspartner in Venedig oder Rom. Dann wieder ein Lieferant, der beste Qualität versprochen, aber nur mindere Ware geliefert hatte. Warum unternimmt Vater nichts gegen diese Ãrgernisse?, hatte Konstantin einmal von der Mutter wissen wollen. Eine Antwort hatte er nie bekommen. Stattdessen hatte er mit ansehen müssen, wie die Mutter mit tränennassen Augen Schmuckstück für Schmuckstück verkaufte, um mit ihren Kindern wenigstens das »Kartoffelspiel« spielen zu können.
AuÃer ihm und seinen Geschwistern kannte dieses Spiel gewiss niemand, ging es Konstantin durch den Sinn, während er das Café betrat und sich an einem Tisch am Fenster niederlieÃ. Seine Bildermappe stellte er auf dem Stuhl neben sich ab.
»Lasst uns einen Wettbewerb veranstalten!«, pflegte die Mutter bei Tisch zu sagen, wenn die Familie wieder einmal unter einem »finanziellen Engpass« litt. »Wer am wenigsten Kartoffeln braucht, um satt zu werden, ist der Sieger. Langsam kauen! Und jeden Bissen so lang wie möglich im Mund behalten. Wehe, ihr mogelt â¦Â«
Er und seine Brüder hatten bei diesem »Spiel« gekichert und sich gegenseitig zu übertrumpfen versucht, die Schwestern hingegen hatten geweint, weil ihnen der Bauch vor Hunger wehtat. Auf den Gewinn â einen Stern, den die Mutter mit Kreide an die Wand über dem Bett des jeweiligen »Gewinners« malte â hatten sie gern verzichtet.
Eine Bedienung mit blütenweiÃer Schürze und
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