Das Blut der Azteken
überstandenen Gefahren und einer Liebe, die alles besiegte. Allerdings darf man solche Dinge nicht überstürzen, man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Geduld ist eine Tugend, die ich als Gast im Kerker des Vizekönigs gelernt habe.
Man treibt einen Folterknecht nicht zur Eile an.
Ihr müsst entschuldigen, wie ungelenk ich die Worte auf dieses ausgezeichnete Papier kritzele. Für gewöhnlich ist meine Handschrift so elegant wie die eines Priesters. Doch Bruder Osorios Behandlung hat meiner Handschrift ziemlich geschadet. Seit er mir mit Daumenschrauben die Fingernägel zermalmt hat, kann ich den Federkiel nur noch zwischen den Handflächen halten.
Aber trotz der körperlichen Beschädigung wankt mein Mut nicht.
Ich werde mich an die Wahrheit halten, denn außer ihr ist mir nichts geblieben. Alles andere hat man mir genommen - Liebe, Ehre, Kleider -, sodass ich nackt vor Gott und den Ratten sitze, mit denen ich die Zelle teile.
Die Wahrheit wohnt immer noch in meinem Herzen, dem Allerheiligsten, zu dem kein Mensch Zugang hat. Die Wahrheit kann man einem Mann nicht rauben, nicht einmal in der Folter, denn sie steht unter dem Schutz Gottes.
Wie Don Quijote, ein Ritter, dessen Träume und Sehnsüchte so ungewöhnlich waren wie die meinen, war ich von Geburt an dazu bestimmt, eine Rolle zu spielen, die mich von den anderen Menschen unterschied. Mein Leben wurde stets von Geheimnissen überschattet. Und ich sollte herausfinden, dass sich selbst um meine Geburt finstere Absichten und düstere Machenschaften rankten.
Ihr sagt, der edle Ritter von der traurigen Gestalt sei nichts weiter als ein Hirngespinst von Cervantes gewesen, als dieser schwer verwundet aus dem Maurenkrieg heimgekehrt war. Würdet ihr mich als verrückt bezeichnen, wenn ich euch sagte, dass ich während meiner Abenteuer Seite an Seite mit dem wirklichen Don Quijote um einen Schatz gekämpft habe?
Der Mönch soll seine glühenden Zangen weglegen und abwarten, bis ich von diesem Schatz erzähle, denn jetzt bin ich noch nicht bereit dazu. Durch seine Behandlung sind mir die Gedanken durcheinander geraten, und ich muss sie erst wieder ordnen, um mich an dieses erfüllte Leben und die weltlichen Güter erinnern zu können, auf die der Vizekönig so neugierig ist. Ich muss zurückkehren in die Zeit, als ich von einer Wölfin gesäugt wurde und den Wein der Jugend trank.
Ich beginne ganz am Anfang, meine Freunde, und ich werde die goldenen Tage meines Lebens mit euch teilen.
II
Du hast keine Mutter.
Bruder Antonio
1
Nennt mich Cristo.
Ich wurde im Dorf Aguetza im großen Tal von Mexiko geboren. Meine aztekischen Vorfahren hatten in diesem Tal Tempel gebaut, um die Götter von Sonne, Mond und Regen zufrieden zu stellen. Doch nachdem die Indiogötter von Cortés und seinen Conquistadores abgeschafft worden waren, teilte man das Land samt der Indios, die es bewohnten, in große Haciendas auf, Lehensgüter, die spanischen Adligen gehörten. Das Dorf Aguetza, das aus ein paar hundert aus in der Sonne getrockneten Lehm- und Strohziegeln erbauten Hütten bestand, gehörte mit seiner gesamten Einwohnerschaft zur Hacienda von Don Francisco Pérez Montero de Ibarra.
Heute heißt es, dass die Sonne über dem Spanischen Reich niemals untergeht, denn es herrscht nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt, schließt den Großteil der Neuen Welt bis zu den Philippinen ein und erstreckt sich bis in das Land der Hindus und nach Afrika. Neuspanien mit seinen gewaltigen Silbervorkommen und Ländereien ist eine der wichtigsten Besitzungen.
Die Spanier bezeichneten die Indios von Neuspanien für gewöhnlich als Azteken, obwohl es dort eigentlich viele Stämme gab, die Tarasken, die Otomi, die Totonaken, die Zapoteken, die Mayas und noch viele andere, die häufig ihre eigene Sprache hatten.
Als Kind sprach ich Náhuatl - die Sprache der Azteken - und Spanisch.
Wie bereits erwähnt, floss in meinen Adern das Blut der Spanier und der Azteken. Wegen dieser Mischung nannte man mich einen Mestizen, was bedeutete, dass ich weder Spanier noch Indio war. Bruder Antonio, der Dorfpriester, der viel zu meiner Erziehung und Ausbildung beitrug, sagte stets, ein Mestize sei an der Grenze zwischen Himmel und Hölle geboren; denen, die dort lebten, blieben die Freuden des Himmels verwehrt. Obwohl Bruder Antonio meistens Recht behielt, hatte er sich, was das traurige Schicksal der Mestizen anging, gründlich geirrt: Das Dasein eines Mestizen war kein Fegefeuer,
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