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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Alex’ Tagebuch.
    16. Mai 1795
    So viele Tote um mich herum.
    Sie stoßen und drängeln in den Straßen wie Hausfrauen
am Markttag, wandern schweigend und einsam am Flussufer entlang. Sie suchen die
Orte und die Menschen heim, die sie einst glücklich gemacht haben.
    Sehen Sie die Kinder der Noailles, die mit ihrem Lehrer
spazierengehen? Es ist kein Windhauch, der das Haar des kleinen Mädchens
zerzaust, sondern der Atem des Geists seiner Mutter. Und dort, auf dem
Königinnenweg, sehen Sie die Rosenbüsche erzittern? Marie Antoinette ist wieder
mit ihren Röcken hängen geblieben. Sehen Sie dort, im Café Foy. Sehen Sie den
Schatten im Fenster? Es ist Desmoulins. Vor langer Zeit sprang er auf einen
Tisch und drängte die Bürger von Paris, die Bastille zu stürmen. Jetzt steht er
draußen, presst die Hände gegen die Scheibe und weint.
    Da ist Mirabeau, der donnernde Reden hielt, mit
Edelsteinen besetzte Knöpfe an seinem Rock trug, während die Kinder von Paris
in Lumpen gingen. Und Danton, unsere letzte Hoffnung, der lachend aufs Schafott
stieg. Und Robespierre, der Unbestechliche, der es so liebte, uns die Köpfe
abzuschlagen, damit wir nicht von zu vielen Gedanken belästigt wurden.
    Können Sie sie nicht sehen?
    Spät letzte Nacht, als ich mit meinen Raketen draußen
war, sah ich noch jemanden. Keine dem Untergang geweihte Königin, keinen
feurigen Rebellen, sondern jemanden, der mich einst geliebt hatte – meine
Großmutter. Sie saß unter einer Straßenlaterne, in der einen Hand eine Nadel,
in der anderen den Faden.
    Gott braucht mich, Alex, sagte sie. Die Engel haben
keine Köpfe. Und selbst wenn es die ganze Ewigkeit dauert, werde ich jeden
einzelnen Kopf wieder annähen, den dieser wirre Mistkerl Robespierre
abgeschlagen hat. Weder Schleifen noch Halsbänder werden nötig sein, wenn ich
fertig bin. Es gibt niemanden in Paris, der so perfekte Nähte machen kann wie
ich.
    Haben sie goldenen Faden im Himmel, Großmutter?, fragte
ich.
    Gute Arras-Seide ist alles, was ich brauche.
    Zu ihren Füßen stand ein Korb. Sie griff hinein und
nahm den Kopf einer jungen Frau heraus, einer Marquise. Sie hatte
Bourbonen-Weiß bei ihrer Hinrichtung getragen, jetzt aber trug sie die
Trikolore – weiße Wangen, blaue Lippen, rotes Blut, das von ihrem Hals tropfte.
Lang lebe die Revolution.
    Als Nächstes ist dein Kopf dran, sagte meine
Großmutter, der wie eine schmutzige Rübe in den Korb fallen wird.
    Nur, wenn sie mich kriegen.
    Das werden sie, sagte ein anderer. Du kannst ihnen
nicht ewig entkommen.
    Der Herzog von Orléans. Seit zwei Jahren tot, aber
immer noch glanzvoll in Seide und Spitze. Er ging zum Schafott wie zu einem
Ball.
    Ich werde sie alle überleben, erwiderte ich. Habe ich
nicht auch Sie überlebt?
    Geh. Schnell. Bevor die Wache dich sieht.
    Ich kann nicht. Ich habe am Turm zu tun.
    Das ist Wahnsinn! Was glaubst du, was du hier
aufführst?
    Tragödie, mein Herr. Wie Sie befahlen.
    Und dann, als rezitierte ich Shakespeare in den Höfen
des Palais, begann ich mit meiner schönsten Bühnenstimme …
    Still! Seid alle still! Setzt euch und seid still.
    Schickt Euren Lakai, mehr Austern zu holen, wenn’s Euch
beliebt. Zwinkert Eurer Mätresse zu, pisst auf den Boden, und lasst es dann gut
sein. Denn dies ist ein Prolog, in dem ich Kunde tue von dem, was kommen wird.
Eine Tragödie in fünf Akten – Revolution, Konterrevolution, ein Teufel, der
Terror, der Tod.
    Hört jemand zu, oder verschwende ich meinen Atem?
    Der Junge ist am Ende, sagte der Herzog von Orléans.
Lass ihn sterben. Oder du stirbst.
    Er lebt, Monsieur!, rief ich.
    Wer ist da? bellte eine Stimme vom anderen Ende der Straße.
Kein Geist diesmal, und ließ die anderen verstummen. Wer bist du? Sprich!
    Ich bin LeMieux’ Magd, Bürger! schrie ich. Aus der Rue
Charlot. Ich bringe seinen kleinen Sohn zum Arzt. Seine Frau ist heute
Nachmittag gestorben. An Auszehrung. Wir fürchten das Kind hat sie auch. Sehen
Sie … sehen Sie hier …
    Ich lief auf ihn zu, als wäre ich schon eine Meile
gerannt, stolpernd und außer Atem. Zu viel des Guten. Wie immer, wenn ich Angst
habe. Ich stellte meine Laterne ab, griff in meinen Korb und tat so, als würde
ich die Tücher zurückschlagen. Sie waren mit roten Flecken besät. Ich hatte mir
kurz zuvor mit einem Schälmesser die Hand aufgeschnitten und das

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