Das Blut der Lilie
Mann namens Nicolas, an meine Tür, um mich aufzuwecken, und ich
sprang verängstigt und mit trüben Augen aus dem Bett und wusste nicht, wo ich
war.
Sobald meine Hände nicht mehr zitterten, wusch ich mein
Gesicht, schnürte meine Brüste platt und zog mich an. Ich aà die Brötchen mit
Butter und Marmelade und trank den Kaffee, den Nicolas vor meiner Tür
abgestellt hatte, und machte mich dann auf zu den Tuilerien.
Auf dem Weg las ich die Bekanntmachungen und hörte, wie
die Zeitungsjungen die neuesten Nachrichten ausriefen. Diese waren wie immer â
schlecht. Der Winter war wieder hart. Die Seine mit dickem Eis bedeckt. Am
Stadtrand wurden Wölfe gesehen. Die Arbeiter in den Provinzen streikten.
Ãsterreich und England drohten wegen der Inhaftierung des Königs in den
Tuilerien mit Krieg.
An den Abenden ging ich in die politischen Clubs â zu
den Cordeliers und den Jakobinern â wie der Herzog von Orléans mir befohlen
hatte, und hörte die Reden von Danton und Robespierre. Auf dem Heimweg drückten
mir zerlumpte Männer Pamphlete mit Bildern in die Hand, die den König und die
Königin als Ziegen oder Schweine zeigten, die Frankreich verschlangen. Die
Ernte sei gut gewesen dieses Jahr, sagten die Verfasser der Pamphlete, also
warum gab es kein Korn zu kaufen? Weil der König heimlich angeordnet hätte, es
zurückzuhalten, um Paris auszuhungern und so fügsam zu machen. Die königlichen
Rechnungsbücher seien veröffentlicht worden, las ich. Der König habe letztes
Jahr achtundzwanzig Millionen Livres für die Spielschulden seines Bruders
ausgegeben. Er habe groÃe Summen in die eigenen Taschen gesteckt, während die
Kinder Frankreichs nach Brot schrien.
An den meisten Tagen wusste ich nicht, wer ich war,
aber eines wusste ich ganz genau â für den König standen die Dinge nicht gut.
Als ich am zwanzigsten Juni in die Tuilerien kam,
spürte ich sofort, dass etwas im Gange war. Die Königin war bleich und
aufgewühlt. Madame Elizabeth gereizt. Der König aà nichts.
In dem Moment wusste ich, dass sie in dieser Nacht aufbrechen würden, und bei
dem Gedanken packte mich kalte Angst.
Waren sie sich überhaupt im Klaren darüber, was sie
vorhatten? Hatten sie die Bastille vergessen? Den Marsch nach Versailles? Und
wie gern der Pariser Mob Köpfe abschlug? Hatten sie die Gemeinheiten und
Drohungen nicht gehört, die ihnen durch die Tore der Tuilerien zugerufen
wurden? Hatte ihnen niemand von den Reden in den Markthallen berichtet, wo
Fischweiber versprachen, ihnen die Leber herauszureiÃen und sie zu verspeisen?
Die Palastmauern, die sie gefangen hielten, hielten
auch die raue Welt von ihnen ab. Und jetzt würden sie hinaustreten, geradewegs
mitten hinein in diese Welt, diese unbedarften Menschen mit ihren weiÃen
Händen, ihren zarten FüÃen und sanften Worten. In Montmédy wären sie sicher, aber
dorthin mussten sie erst einmal kommen.
An diesem Tag war ich sehr zärtlich zu Louis Charles,
trotzte dem Zorn der Kammerzofen und stahl Laken, um Burgen für ihn zu bauen.
Ich stibitzte seine süÃen Leibspeisen aus der Küche. Ãberredete ihn am Abend, möglichst
viel von dem Beefsteak zu essen, damit er sich stärkte für das, was vor ihm
lag.
An diesem Abend half ich ihm beim Waschen, zog ihm sein
Nachtgewand an, und nachdem er seine Eltern, seine Tante und seine Schwester
geküsst hatte, brachte ich ihn zu Bett. Er war beklommen, kam nicht zur Ruhe
und verlangte viele Geschichten von mir.
Verlass mich nie, Alex, sagte er, nachdem ich mit der
letzten Geschichte, der von der weiÃen Katze, geendet hatte. Das hast du mir
versprochen.
Das werde ich nicht, Louis Charles, antwortete ich,
aber es könnte der Tag kommen, an dem du mich verlässt.
Niemals. Ich werde dich nie verlassen. Und wenn ich
König bin, mache ich dich zu meinem höchsten Minister, damit du immer bei mir
bist.
Ich musste lächeln und erinnerte ihn, dass ich unter
meiner Kammerdieneruniform nur ein Mädchen war und Mädchen niemals Minister
werden konnten. Dann sagte ich ihm, dass er jetzt ruhen müsse, sonst würde sich
seine Mutter sorgen. Nachdem er eingeschlafen war, packte ich leise seine
Lieblingssoldaten und -pferde, sein Lotto- und Schachspiel in ein kleines
Holzkästchen und legte es an das FuÃende seines Bettes, in der Hoffnung jemand
würde es sehen und mitnehmen, damit
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