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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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fast umgebracht.
    Ich gehe zu ihm zurück, knie mich auf die Plane und nehme
seine Hände in die meinen. »Ich bin mehr als traurig. Mehr als wütend, Virgil.
Es ist viel schlimmer. Und du möchtest nicht wissen, was passiert ist. Das
musst du mir glauben.«
    Â»Andi …«
    Â»Bitte, Virgil. Bitte bring mich einfach heim.«
    Inzwischen stehen mir Tränen in den Augen. Er wischt sie mit
seinem Ärmel weg.
    Â»Okay«, sagt er, und ich sehe den Schmerz in seinen eigenen
Augen. »Wenn es das ist, was du willst. Gehen wir.«
    Â Â 46  
    Â»Warte«, sagt Virgil.
    Er zieht den Stecker aus dem Armaturenbrett und reicht mir
    meinen iPod. Wir sitzen in seinem Wagen vor G.s Haus.
    Â»Danke«, sage ich und nehme den iPod. Aber ich meine es nicht
so. Ich bin nicht dankbar. Ich will ihn nicht zurück. Es bedeutet das Ende
meiner nächtlichen Anrufe bei ihm. Und seiner frühmorgendlichen bei mir. Das
Ende der Songs und Schlaflieder. Das Ende des einzigen Glücks, das ich in den
letzten zwei Jahren hatte.
    Â»Ruf mich an, okay?«, sagt er.
    Ich stelle mir vor, wie es ist, ihn von New York aus
anzurufen. Seine Stimme, sein Reden, sein Lachen zu hören, dann nach ein paar
Minuten aufzulegen und mich noch tausendmal einsamer zu fühlen als zuvor.
    Â»Sicher«, sage ich.
    Ich öffne die Tür, um auszusteigen, aber er greift nach
meiner Hand und hält mich fest.
    Â»Als wäre es nicht schon schwer genug«, sage ich mit
brechender Stimme.
    Er lehnt seine Stirn gegen die meine, dann lässt er mich los.
    Â Â 47  
    Mein Vater sitzt angezogen am Tisch und frühstückt. Er blickt
    von seinem Laptop auf, als ich hereinkomme.
    Â»Andi?«, sagt er. »Ich dachte, du wärst in deinem Zimmer.
Würdest schlafen. Wo bist du gewesen?«
    Â»Ich war draußen, um den Sonnenaufgang zu betrachten.«
    Er sieht mich an, als hätte ich gesagt, ich sei gerade in
Harvard aufgenommen worden.
    Â»Wirklich?«, fragt er.
    Â»Wirklich.«
    Â»Das ist schön, Andi. Ich bin froh, dass du das getan hast.«
    Â»Ja, es war schön.«
    Es war das Schönste und Wunderbarste, was mir je passiert
ist. Und jetzt ist es vorbei. Und ich möchte nichts anderes, als mich in mein
Bett legen und fest zusammenrollen.
    Â»Ich hab Croissants geholt«, sagt er. »Möchtest du eins? Es
gibt auch Kaffee.«
    Â»Nein, danke, Dad. Ich bin total müde. Ich denke, ich leg
mich hin. Schlaf noch ein wenig. Ich muss heute in Malherbeaus Haus. Noch ein
bisschen an meinem Entwurf arbeiten. Heute Abend kann ich ihn dir zeigen. Und
die Gliederung auch. Bist du dann hier?«
    Â»Ja, ich werde hier sein. Es wird ein bisschen später – ich
hab den ganzen Tag im Labor zu tun, und dann ist noch ein Dinner –, aber ich
werde hier sein. Meinst du es ernst, Andi?«
    Â»Ob ich was ernst meine?«
    Â»Bist du wirklich heute Abend mit dem Entwurf und der
Einleitung fertig?«
    Â»Ja. Ich hab’s schon fast. Aber ich könnte noch etwas
Bildmaterial zu Malherbeau gebrauchen. Deswegen gehe ich zu seinem Haus.«
    Â»Das sind großartige Neuigkeiten. Ich bin stolz auf dich.
Vielleicht war die Reise doch keine so schlechte Idee.«
    Ich lächle ihn an. Was mich meine letzte Kraft kostet. »Ja,
vielleicht«, antworte ich.
    Ich gehe in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir und
setze mich aufs Bett. Dann öffne ich meine Tasche und nehme mein Handy heraus.
Ich werde ihn anrufen. Ihm sagen, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich eine
Möglichkeit finden will.
    Aber dann fällt mir ein, was er gesagt hat – dass ich traurig
und wütend sei –, und ich weiß, dass er nicht mal einen Bruchteil meines Elends
gesehen hat. Wie soll ich ihm von dem Schmerz erzählen? Von den Pillen, die ich
wie Smarties einwerfe? Wie soll ich ihm sagen, wie schwer es mir manchmal
fällt, von Flussufern und Dachrändern fernzubleiben? Wie soll ich ihm sagen,
was passiert ist?
    Ich kann es nicht, also tue ich es nicht.
    Ich lege mich hin und versuche zu schlafen, aber auch das
gelingt mir nicht, weil ich ständig an ihn denken muss. Also beschließe ich,
mir, um endlich einzuschlafen, ein paar Songs anzuhören – was ja jetzt wieder
möglich ist, weil ich meinen iPod zurückhabe –, aber dann wird mir klar, dass
die Musik mich nur noch mehr an Virgil denken lässt.
    Ich greife auf den Nachttisch nach

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