Das Blut der Lilie
glitzernde
Stadt unter mir. Ich blicke auf ihn zurück: Er sitzt im Gras, das Gesicht in
die Morgendämmerung erhoben, und ich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben.
Genau jetzt. Damit ich diesen Moment für immer festhalten könnte.
Als ich schlieÃlich zu der Plane zurückgehe, klappern mir die
Zähne. »Es ist umwerfend. Danke«, sage ich, setze mich wieder und lege die
Decke um mich.
»Gern geschehen«, antwortet er.
Wenn er sich an mich heranmachen wollte, wäre genau jetzt der
richtige Zeitpunkt. Aber er tut es nicht. Was vermutlich auch ganz gut so ist.
SchlieÃlich lebt er in Paris und ich lebe in Brooklyn. Ich fahre morgen weg.
Und das warâs dann vermutlich.
Ich zittere wie verrückt. Die Sonne steht am Himmel, wärmt
aber noch nicht. Ich greife nach der Thermoskanne und genau im selben Moment
greift Virgil nach der Bistella, sodass wir heftig mit dem Kopf zusammenstoÃen.
Ich fluche und reibe mir die Stirn. Er auch. Dann muss ich lachen. Er auch. Und
sein Gesicht ist ganz nahe an meinem. Und plötzlich lache ich nicht mehr. Weil
er mich küsst.
  45 Â
Lippen und Atem. Sein Geruch, sein Geschmack, sein Körper.
Seine nukleare Wärme. Das alles will ich, wie ich noch nie etwas gewollt habe.
Er macht sich los und sieht mich an. »Ich hoffe, das ist
nicht zu kess für dich ⦠mein Sohn«, sagt er mit einem Lächeln um den schönen
Mund.
Ich ziehe sein Gesicht an meines. Ich will nicht, dass er
redet. Ich will bloÃ, dass er mich wieder küsst. Ich drücke mich an ihn und
kann unter meinen Händen sein heftig klopfendes Herz spüren.
So verweilen wir. Bis eine alte Dame, die ihren Hund
spazieren führt, stehen bleibt, mit ihrem Stock auf den Boden klopft und uns
wütend darauf hinweist, dass dies ein Haus Gottes sei.
Dessen bin ich mir bewusst. Absolut. Weil gerade ein Wunder
geschehen ist.
Aber die Sonne ist aufgegangen, Leute spazieren den Weg
entlang, helles Tageslicht breitet sich aus, und Rummachen in der Ãffentlichkeit
steht ganz oben auf meiner Liste abscheulicher Verbrechen. Also bleiben wir
einfach ganz dicht aneinandergeschmiegt sitzen und schauen in den morgendlichen
Himmel.
»Wann fährst du zurück?«, fragt er mich. Obwohl er es weiÃ.
»Morgen Abend«, antworte ich.
»Ich ruf dich an.«
Darüber lache ich. Nicht fröhlich.
Seitdem ich hier angekommen bin, wollte ich zurück. Jetzt
nicht mehr. Ich möchte nicht weg aus Paris. Von diesem Ort. Von ihm. Und das
tut weh. Sehr sogar.
Stoà ihn weg, sagt eine Stimme in mir. Bevor es noch mehr weh
tut.
»Ich möchte nicht, dass du mich anrufst«, sage ich. »Ich
möchte dich, so wie du jetzt hier bist, keine beschissene Telefonbeziehung.«
»Warum kannst du nicht bleiben?«
»Es geht einfach nicht. Es gibt Schwierigkeiten bei mir zu
Hause. Mit meiner Mutter. Es ist kompliziert.«
»Was ist denn? Was ist los?«
Wie kann ich es ihm erklären? Wie? Ich habe der Polizei
berichtet, was passiert war. Und meinen Eltern. Und dann nie wieder darüber
gesprochen. Mit niemandem. Weder mit Nick noch Dr. Becker. Nicht einmal mit
Vijay oder Nathan. Ich kann es nicht. Es geht einfach nicht.
»Ich muss los«, sage ich abrupt. »Ich muss zurück sein, bevor
mein Vater aufwacht und sich fragt, wo zum Teufel ich stecke.« Ich schraube die
Thermoskanne zu. Wickle den Rest der Bistella ein und stecke sie in seine
Tasche. Dann falte ich die Decke zusammen und drücke sie an die Brust. »Ich
muss wirklich los«, sage ich erneut. »Jetzt.« Wir beide hören den Schmerz in meiner
Stimme.
»Du bist so traurig, Andi. So wütend. Das sieht man in deinem
Gesicht. In deinen Augen. Man hört es in jedem Wort, das du sagst. In jeder
Note deiner Musik. Was zum Teufel ist dir passiert?«
»Nichts«, sage ich. »Lass es einfach.«
»Was soll ich lassen? Mir Gedanken zu machen? Dich hierher zu
bringen? Ich soll dich küssen, mir aber keine Sorgen um dich machen?«, fragt
er.
Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte weg, dann bleibe ich
stehen und schlage die Hände vors Gesicht. Ich weià nicht, was ich tun soll.
Ich möchte ihn ja nicht wegstoÃen, ihn nicht verletzen. Jeden anderen in der
Welt, aber nicht ihn. Aber ich weià nicht, wie ich das machen soll. Darüber zu
sprechen, würde mich umbringen. Ganz sicher. Allein darüber nachzudenken, hat
mich
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