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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Und den alten Schwerenöter,
der sich nach einem One-Night-Stand nach Hause schleicht. Ich liebe die
rotwangige Bauersfrau, die ein Käserad hoch über dem Kopf trägt. Ich spüre
etwas, wenn ich diese Menschen beobachte. Ich bin nicht sicher, was es ist. Ich
spüre etwas, während ich hier sitze. Im Dunkeln. Mit Virgil. Es dauert eine
Weile, bis ich das Gefühl erkenne, weil es so lange her ist, dass ich es
zuletzt spürte. Aber dann weiß ich es.
    Es ist Glück.
    Â Â 44  
    Wir fahren bergauf. Immer höher und höher hinauf. Zum
Monmartre, zu Sacré-Cœur, der Kirche auf dem Hügel. Um den Sonnenaufgang zu
sehen.
    Auf einer schmalen Straße südlich der Kirche quetscht Virgil
den Wagen in eine Parklücke, nicht größer als ein Schuhkarton. Er steigt aus,
öffnet den Kofferraum und nimmt eine Plane, eine Tasche und eine Decke heraus.
    Â»Gehen wir zum Campen?«, frage ich mit Blick auf die Decke.
»Ansonsten wär das ganz schön kess von dir, mein Sohn.«
    Er verdreht die Augen. »Nimm das«, sagt er und reicht mir die
Tasche. »Los jetzt. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
    Ich frage mich, worauf ich mich da eingelassen habe. Und ob
er sich an mich ranmachen will. Jeder andere Typ hätte es probiert an den zwei
Millionen Ampeln, an denen wir anhalten mussten. Aber ich weiß ja schon, dass
er nicht wie jeder andere ist.
    Weil ich das steile Kopfsteinpflaster nicht schnell genug
raufgehe, packt er meine Hand und zerrt mich mit sich. Wir steigen zahllose
Steinstufen hinauf und kommen an den breiten, geneigten Rasenflächen vor
Sacré-Cœur heraus. Von hier aus kann man ganz Paris überblicken. Die Lichter
der Stadt blitzen wie kleine Sterne in der Dunkelheit. Er wählt einen Platz in
der Mitte des Rasens und breitet die Plane aus.
    Â»Setz dich«, sagt er.
    Das mache ich. Er setzt sich neben mich und legt die Decke um
unsere Schultern. Es gefällt mir, ihm so nahe zu sein. Er verströmt diesen
köstlichen Geruch, den Jungs oft an sich haben, nach warmer Haut und
Waschmittel. Er öffnet die Tasche und nimmt eine Thermoskanne mit heißem Kaffee
und eine Plastikbox mit zwei Gabeln heraus.
    Â»Bistella«, sagt er und reicht mir eine Gabel. »Meine Mom hat
es gemacht. Tut mir leid, dass es kalt ist. Es sollte eigentlich mein
Abendessen sein. Es ist ein Auflauf mit Huhn …«
    Â»â€¦ und wird mit Rosinen, Mandeln und Zimt gemacht. Ich kenne
Bistella«, sage ich. »Ich wohne in der Nähe der Atlantic Avenue in Brooklyn. Da
gibt’s ein marokkanisches Restaurant, ein syrisches, jemenitische und
tunesische.«
    Ich nehme einen Bissen. Es ist köstlich, und das sage ich
ihm. Und nehme noch einen. Bistella ist mein Lieblingsessen. Ich greife noch
einmal zu, als mir einfällt, dass ich schon zu Abend gegessen habe, er aber
noch nicht.
    Â»Ich muss dich was fragen«, sage ich und lecke mir die Lippen
ab.
    Â»Uhm?«, antwortet er kauend.
    Â»Wann passiert es?«
    Er schaut mich an, als wäre er total überrascht. »Wann
passiert was?«
    Â»Ho, ho, ho. Bald schon, richtig?«
    Â»Ich hab keine Ahnung, was du meinst«, erwidert er,
inzwischen lächelnd.
    Ich sehe mich um, aber offensichtlich blicke ich in die
falsche Richtung, weil er mich am Kinn fasst und vorsichtig meinen Kopf dreht.
»Da«, sagt er und deutet mit der Hand nach Osten.
    Und da sehe ich, warum er mich hierhergebracht hat. Ich sehe
feurige Streifen in Rosa und Orange entlang des Horizonts. Ich sehe die ersten
goldenen Strahlen der Sonne. Die vom Frost geküssten Dachspitzen von Paris, die
glitzern, als wären sie mit Diamanten besetzt.
    Â»O Virgil, das ist wunderschön«, flüstere ich. Weil ich nicht
lauter sprechen kann.
    Â»Ich dachte, es würde dir gefallen. Weil du gesagt hast, dass
dir mein Song gefällt«, antwortet er ruhig. »Der über den Sonnenaufgang in
Paris.«
    Das alles hat er für mich getan. Die lange Fahrt hierher
unternommen. Den Kaffee besorgt. Die Plane und die Decke mitgebracht. Alles für
mich. Er hat die ganze Nacht gearbeitet und hätte nach Hause gehen und schlafen
sollen. Stattdessen hat er mich hierhergebracht, damit ich den Sonnenaufgang
erlebe.
    Ich sollte etwas sagen. Ich sollte ihm danken, aber ich kann
nicht. Ein dicker Kloß in meinem Hals lässt es nicht zu. Ich stehe auf, gehe
zum Rand des Rasens, lehne mich an die Steinmauer und betrachte die

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