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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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tun. Abschlussarbeit. Collegebewerbungen.
Sie wissen schon.«
    Er weiß bloß, dass ich lüge.
    Â»Wie geht’s dir, Andi? Ehrlich?«, fragt er und sieht mich
prüfend an.
    Â»Mir geht’s gut«, antworte ich und sehe weg. Er macht sich
Sorgen. Das weiß ich. Deshalb sage ich ihm auch nicht, wie es wirklich um mich
steht.
    Â»Nein, das glaube ich nicht. Wie denn auch?«, antwortet er.
»Ich kann nie an diesen Tag zurückdenken, ohne dass mir Lears Rede an seine
arme verstorbene Cordelia einfällt: Warum sollt’ ein Hund, ein Pferd, eine Ratte
leben / und du hast keinen Atemhauch mehr? Es ist ein Trost, das
Werk des Dichters. Findest du nicht auch? Shakespeare stellt so monumentale
Fragen.«
    Â»Sponge Bob tut das auch. Das Problem ist bloß, dass beiden
keine monumentalen Antworten einfallen.«
    Rupert lacht, aber seine Augen sind traurig. »Nick vermisst
dich. Ich dich übrigens auch«, sagt er. Dann umarmt er mich. Das tun die Leute
oft. Es scheint zu helfen. Zumindest ihnen.
    Â»Also, jetzt stürz dich ins Getümmel und vergnüg dich«, sagt
er und reicht mir einen rosa Papiersonnenschirm.
    Â»Ã„hm, Rupert? Hier scheint doch keine Sonne.«
    Â»Es ist ein Schutzschild, meine Liebe. Jago ist schlimm, aber
Edmund, der Neue, ist der Teufel in Person.«
    Ich spanne den Sonnenschirm auf, gehe von Raum zu Raum und
fühle mich wie Cho-Cho-San auf der Suche nach Pinkerton in Madame Butterfly .
Meine halbe Klasse ist in der Küche. Überall liegen leere Flaschen und
Zigarettenschachteln herum, ich sehe Papageien und Sonnenschirme, aber keinen
Nick.
    Jemand bietet mir ein Glas Wein an, aber ich lehne ab.
Alkohol verträgt sich nicht gut mit meinen Pillen. Es kommt zu unangenehmen
Nebenwirkungen.
    Vor ungefähr einem Jahr habe ich angefangen, die Pillen zu
schlucken. Ich habe Dr. Becker, einen Psychiater, aufgesucht, weil ich weder
essen, schlafen, noch zur Schule gehen konnte. Beezie hatte ihn empfohlen, und
mein Vater zwang mich hinzugehen, indem er mir drohte, dass ich andernfalls
keinen Unterricht mehr bei Nathan nehmen dürfte. Ich sollte irgendwelche Dinge
mit ihm besprechen, aber ich machte den Mund kaum auf – außer um zu sagen, was
für eine Zeitverschwendung das Ganze sei. So vergingen ein paar Wochen, danach
verschrieb Dr. Becker Paxil. Dann Zoloft . Als das nicht
wirkte, setzte er mich auf Qwellify, ein trizyklisches Antidepressivum. Falls
das nicht anschlagen sollte, würden Neuroleptika an die Reihe kommen.
    Ich gehe weiter durch das Haus der Goodes, auf der Suche nach
Nick. Ich wünschte, Vijay wäre mitgekommen, dann hätte ich jemanden zum Reden,
aber es ist ein Samstagabend während der Winterferien, also arbeitet er
natürlich an seinem Abschlussaufsatz – Atom und Eva: Technologie, Religion und der Kampf
    ums 21. Jahrhundert. Er hat es bereits geschafft, Beiträge von
fünf weltbekannten Persönlichkeiten zu bekommen.
    Ich biege ins Wohnzimmer ab, wo laute Musik läuft.
Jugendliche knutschen auf dem Sofa, einem Stuhl und auf dem Boden. Über dem
Kaminsims hängt ein riesiger Schwarz-Weiß-Akt von Steven Meisel, der Lady Goode IV . zeigt. Sie ist dreiundzwanzig. Und Model. Und nicht
viel zu Hause. Aber wie Rupert oft und gern erklärt: »Mit solchen Brüsten kann
man tun, wozu man Lust hat.«
    Ich mache mich auf den Weg in die Bibliothek. Silvia Mendez
zeigt Dias ihrer letzten Kunstinstallation, Leere, bei der
dreihundertfünfundsechzig Flaschen Abführmittel verwendet wurden und
irgendwelches unsägliches Filmmaterial. Das Ganze ist Teil ihrer Abschlussarbeit.
Das Whitney-Museum wird die Installation in eine Ausstellung aufstrebender
Künstler aufnehmen. Bender Kurtz, zum zweiten Mal in diesem Jahr frisch aus der
Entzugsklinik, preist seine Abschlussarbeit an – Erinnerungen eines Suchtkranken .
Er hat bereits einen Buchvertrag. »Mein Agent ist total aufgeregt«, erzählt er
einem Mädchen.
    Eine unglaubliche Müdigkeit überkommt mich angesichts meiner
Klassenkameraden. Eine absolut niederschmetterne, erdrückende, lähmende
Müdigkeit. Wenn ich ihnen zuhöre, könnte ich mich auf den Boden legen und
zwanzig Jahre schlafen, aber das geht nicht – auf dem Teppich ist zu viel
Vogelscheiße –, also beschließe ich zu gehen. Von Nick ist nirgendwo was zu
sehen. Zumindest nicht hier unten. Vielleicht ist er oben, aber ich traue

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