Das Blut der Lilie
ihrem Leib und wollte die Wärter nicht in seine
Nähe lassen. Vorher müsst ihr mich töten, schrie sie.
Die Wärter erwiderten, man würde nicht sie töten, sondern ihre Tochter, und so
musste die Königin ihren Sohn ausliefern, um Marie-Thérèse zu retten.
Sie schleppten ihn fort. Er war erst acht Jahre alt.
Ich befand mich in einem Gang, als sie ihn holten, ganz
in
der Nähe der Kammer, in der die Familie speiste, und brachte gerade das Essen
aus der Küche herauf. Die Wachen stieÃen mich brutal beiseite, als sie ihn von
seiner Mutter wegrissen. Ich fiel hin. Das Essen flog durch die ganze Kammer.
Teller gingen zu Bruch und das Tablett krachte mit lautem Knall auf den
Steinboden.
Doch das alles blieb mir nur unscharf im Gedächtnis
haften. Woran ich mich aber klar erinnere, ist Louis Charlesâ Gesicht. Seine
Augen waren rot vom vielen Weinen. Er drehte sich nach seiner Mutter um, konnte
sie aber nicht sehen. Stattdessen sah er mich und streckte die Hände nach mir
aus. Eine Sekunde lang hielten wir uns umklammert. Entsetzen stand in seinen
Augen, Schmerz und Hilflosigkeit und noch etwas anderes â etwas, von dem ich
wünschte, ich hätte es nie gesehen, denn es hat mich dem Untergang geweiht.
Es verfolgt mich noch immer, selbst jetzt in diesem
Moment, und foltert mich. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es
ungeschehen machen. Alles ungeschehen machen. Von Anfang an. Ich wünschte,
meine Familie wäre nie nach Versailles gegangen. Die Kutsche des Königs hätte
nie auf dem Stadtplatz angehalten. Und ich hätte nie das Lachen des kleinen
Jungen gehört.
Ich habe keine Angst mehr vor Schlägen oder Blut. Ich
fürchte mich nicht mehr vor den Wachen oder der Guillotine.
Es gibt nur noch eines, das ich jetzt fürchte â Liebe.
Denn ich habe sie gesehen, sie gefühlt, und ich weiÃ,
dass es die Liebe ist, die uns zugrunde richtet, nicht der Tod.
Ich lege den Kopf auf mein Kissen. Ich habe Angst weiterzulesen.
Bitte lass es ein gutes Ende nehmen. Lass eine Sache in dieser beschissenen
Welt ein glückliches Ende nehmen.
Ich denke an das Fernsehinterview mit G. und meinem Vater
zurück und durchforste verzweifelt mein Gedächtnis, ob ich mich an etwas
Hoffnungsvolles erinnern kann. G. sagte, einige Leute glaubten, Louis Charles
sei aus dem Gefängnis geschmuggelt und durch ein totes Kind ersetzt worden, das
an seiner statt obduziert und begraben worden sei. Er sagte, Jahre nach Louis
Charlesâ angenommenem Tod seien mehrere Leute auf der Bildfläche erschienen und
hätten behauptet, der Dauphin zu sein. Dad sagte, die Knochen des wahrscheinlichsten
Kandidaten â Naundorff â hätten die DNA -Tests
nicht bestanden.
Aber was, wenn G. und Dad sich täuschten? Was, wenn Naundorff
gar nicht der wahrscheinlichste Kandidat war? Was, wenn der Betreffende
überhaupt nie an die Ãffentlichkeit getreten war?
Ich meine, warum hätte er das tun sollen, nach allem, was er
durchgemacht hatte? Damit sie ihn in die Mangel nehmen, ihn vielleicht wieder
ins Gefängnis werfen konnten? Niemals. Höchstwahrscheinlich hatte er sich in
einer Hütte im Nirgendwo versteckt und inständig gehofft, dass die Welt, die
ihn so grausam behandelt hatte, vergessen würde, dass er je existiert hatte.
Lass Louis Charles entkommen sein, sage ich leise. Lass das
Herz nicht sein Herz sein. Lass es einem armen Kind gehören, das schon tot war,
als man es in den Temple schmuggelte.
Bitte.
  50 Â
Eine Tür schlägt zu. Ich schrecke aus dem Schlaf auf.
Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigt fast zwei Uhr morgens. Ich
muss eingeschlafen sein. Ich höre Schlüssel klappern. Schritte im Gang. Es ist
Dad. Warum kommt er so spät?
Ich reibe mir die Augen. Krieche aus dem Bett. Als ich
schlieÃlich meinen Pullover angezogen habe und in den Flur hinausgehe, sitzt er
im Wohnzimmer. Telefoniert.
Es riecht nach Alkohol. Beim Näherkommen sehe ich, dass vor
ihm eine offene Weinflasche auf dem Couchtisch steht. Er sitzt auf dem Sofa und
reibt sich die Stirn. Ich höre, wie er Minna fragt, wie es ihr geht, und Helix,
ihrer Katze. Ich möchte ihre private Unterhaltung nicht belauschen, also mache
ich mich auf den Rückweg in mein Zimmer. Aber dann fängt er an über das Herz zu
reden, und ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Ich höre mt DNA und D -Loop und PCR- Amplifikation.
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