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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Vage
verstehe ich diese Bezeichnungen. Ich habe schließlich schon im Mutterleib
davon gehört. Dad hat einmal Blutproben von mir und Truman genommen und sie in
seinem Labor untersucht. Ein paar Tage später ist er mit den Ergebnissen
heimgekommen.
    Â»Das seid ihr«, sagte er und tippte auf die Gelscheiben auf
unserem Küchensims. Er deutete auf die kleinen grauen Stäbchen und fügte hinzu:
»Hier drin ist alles enthalten. Alles, was ihr je sein werdet, ist genau hier
drin. Augenfarbe, Größe, Intelligenz, Veranlagung für bestimmte Krankheiten,
Begabungen, Fähigkeiten – die DNA erzählt uns
praktisch alles über das Leben.«
    Â»Nein … noch keine Ergebnisse. Wir sind gerade mit der
Sequenzierung fertig«, sagt er jetzt. »Ich weiß, es ist verblüffend. Ich hab
mir nicht viel davon versprochen, aber die Probe war erstaunlich gut. Wir
vergleichen sie mit Haarproben von Marie Antoinette, zwei ihrer Schwestern und
zwei noch lebenden Habsburger Nachkommen. Ja, die Untersuchung ist umfassend angelegt.«
    Es folgt eine Pause, dann: »Mhm. Die Exzision haben wir im
Coté-Labor gemacht. Die Spitze und ein Stück der Aorta entnommen. Das Herz war
steinhart. Ich habe eine Säge gebraucht. Die Proben für Cassiman und Brinkmann
wurden in einen Glasbehälter gegeben und versiegelt. Die Siegel wurden von
Notaren in Belgien und Deutschland erbrochen. Die Extraktionen haben wir auf
zwei Arten vorgenommen – mit Silizium und Phenol-Chloroform. Ja, vermutlich zu
viel des Guten, aber keiner will irgendein Risiko eingehen. Es war in einem
sehr guten Zustand. Wirklich gut erhalten. Ich konnte die Muskeln sehen, die
Gefäße …«
    Seine Stimme verstummt allmählich. »Ja, ich bin noch da«,
sagt er. Dann lacht er kurz auf. »Ich frage mich manchmal, warum, Min. Wie so
etwas möglich war.« Er hört eine Weile zu und erwidert dann: »Ich weiß, ich
weiß, ich sollte objektiv bleiben, aber ich bin Monarchist geworden. G. hat mir
Literatur über die Hintergründe gegeben. Es war entsetzlich, was ihnen angetan
wurde. Grauenvoll. Ich empfinde inzwischen große Sympathie für den König und
die Königin. Sie haben für ihre Sünden gebüßt. Ich kann mir nicht mal
ansatzweise vorstellen, wie sie gelitten haben müssen. Nein, nicht weil sie ihr
Leben verloren haben. Sondern weil sie ihre Kinder an einem so schrecklichen
Ort mit so grausamen Menschen zurücklassen mussten. Und wussten, dass man sie
brutal behandeln würde. Und weil sie nichts tun konnten, um sie zu beschützen.«
    Er schweigt einen Moment. »Nun, vielleicht kann ich es mir doch vorstellen«,
fügte er hinzu. Wieder folgt eine Pause, dann sagt er: »Es ist so klein, dieses
Herz. Sie waren im selben Alter, hast du das gewusst? Truman und Louis Charles.
Sie waren beide erst zehn Jahre alt, als sie starben. Und ich kann mir nicht
helfen … ich frage mich einfach ständig, wie das Herz eines Kindes gleichzeitig
so klein und so groß sein kann.«
    Seine Stimme versagt. Er wischt sich über die Augen. Ich
bemerke, dass er weint. Und plötzlich weine auch ich.
    Â»Ich habe mich ihm so nahe dort gefühlt, Minna. In dem Labor.
Bei der Arbeit an dem Herzen. Es ist verrückt, das weiß ich. Aber ich habe
gespürt, dass er irgendwie auch dort war. Bei mir.« Er trinkt einen Schluck
Wein und sagt: »Ja, habe ich. Wenn du es genau wissen willst – ich bin bei der
zweiten Flasche.«
    Wieder eine Pause, dann: »Andi? Sie schläft, denke ich. Hoffe
ich. Ja. Alles beim alten. Sie hasst mich. Gibt mir die Schuld an allem, was
passiert ist. Das weiß ich. Ich gebe mir ja selbst auch die Schuld. Wenn ich
bloß mehr da gewesen wäre.«
    Ich gebe ihm die Schuld? Nein, das stimmt überhaupt nicht. Er
gibt mir die Schuld. Das weiß ich genau. Ich gebe mir selbst die Schuld. Weil
es mein Fehler war. Ich warte, dass er das Gespräch beendet, was er kurz darauf
auch tut. Er legt das Telefon weg und sitzt dann ganz still da, den Kopf in die
Hände gestützt.
    Â»Hey, Dad«, sage ich und gehe ein paar Schritte auf ihn zu.
Ich will versuchen, mit ihm zu reden. Über alles. Über das Herz und Truman,
über das Tagebuch und Vergil.
    Er sieht überrascht auf und fährt sich übers Gesicht. »Ich
dachte, du würdest schlafen, Andi. Wo warst du?«, fragt er peinlich berührt und
plötzlich

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