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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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verärgert.
    Wieder diese Frage. Wo warst du? Ich mache sofort
dicht.
    Â»Nicht da, wo ich sein sollte, schätze ich. Wieder einmal.«
    Â»Was?«, fragt er und sieht verwirrt aus. Und sehr müde.
    Â»Nichts. Vergiss es. Gute Nacht.«
    Ich gehe in mein Zimmer zurück und schließe die Tür. Dort
stelle ich mich an die Wand – die Wand, die mich von meinem Vater trennt. Ich
drücke dagegen. Schlage mit den Handflächen dagegen. Mit den Fäusten. Aber sie
bewegt sich nicht. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen sie, sinke zu Boden und
bleibe eine Weile, den Kopf in den Händen vergraben, dort sitzen.
    Â Â 51  
    Es ist später Sonntagmorgen, und überall ist Kaffee
verschüttet. Auf der Anrichte. Auf dem Boden.
    Auf meinen Füßen.
    Ich bin ein bisschen neben der Spur. Nach dem Vorfall mit
meinem Vater gestern Nacht habe ich vier Pillen eingeworfen. Das ist mehr, als
ich je auf einmal eingenommen habe. Sie haben den Schmerz gedämpft, alles
andere aber auch. Die Grobmotorik funktioniert, aber die feinmotorischen
Fertigkeiten lassen etwas zu wünschen übrig. Ich schaffte es, aufzustehen, mich
anzuziehen, in die Küche zu schwanken, um mir eine Tasse Kaffee zu holen. Aber
irgendwie habe ich beim Einschenken die Tasse verfehlt.
    Ich wische die Sauerei auf und gehe dann ins Wohnzimmer, wo
mein Vater auf einem Stuhl sitzt und meine Arbeit liest. Ich lasse mich
gegenüber von ihm nieder und beobachte ihn. Er wirkt ganz vertieft in die Lektüre.
Das ist gut. Nach ein paar Minuten blickt er zu mir auf. Als hätte er gerade
erst bemerkt, dass ich da bin.
    Â»Also?«, frage ich.
    Â»Das ist großartig, Andi. Sehr gute Arbeit. Ich muss zugeben,
ich hatte meine Bedenken wegen des Themas …«
    Â»Wirklich, Dad? Das habe ich gar nicht bemerkt.«
    Â»â€¦ aber du hast wundervolle Arbeit geleistet. Sowohl was den
Entwurf als auch die Einleitung betrifft. Sehr informativ. Wer hätte gedacht,
dass Mathematik eine so große Rolle spielt in der Musik?«
    Â»Ã„hm, die Musiker vielleicht?«
    Â»Jetzt musst du nur noch die dazugehörige Arbeit schreiben.
Was kein Problem sein dürfte. Du hast noch Zeit bis Mai.«
    Â»Die dazugehörige Arbeit schreiben, damit ich meinen
Abschluss bekomme.«
    Â»Ja natürlich.«
    Â»Und was dann? Nach Stanford? Ich will nicht nach Stanford.«
    Â»Darüber reden wir noch«, antwortet er zögernd.
    Was bedeutet, er wird reden und alle Gründe aufzählen, warum
die Musikhochschule keine gute Idee ist. Und ich werde zuhören. Etwa zehn
Sekunden lang. Dann werde ich explodieren. Und er wird ausrasten. Und wir haben
unser Armageddon. Wie immer. Und für alle Zeiten, wahrscheinlich. Aber das sage
ich nicht. Ich sage gar nichts. Weil er mir gerade grünes Licht für meinen
Heimflug heute Abend gegeben hat, und ich nichts tun werde – nicht das
Geringste – um diesen zu gefährden.
    Â»Also«, sagt er und bricht das Schweigen. »Hast du dein
Ticket? Deinen Pass?«
    Â»Ich habe alles, Dad. Ich bin bereit.«
    Â»Ich werde nicht hier sein, wenn du abfährst. Ich bin den
ganzen Tag im Labor. Also vergiss nicht, die Fluggesellschaft anzurufen, bevor
du gehst. Für den Fall, dass es Streik gibt. Ich möchte nicht, dass du in Orly
festsitzt.«
    Â»Das werde ich nicht.«
    Â»Und ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Und vergiss nicht,
dich bei Mrs. Gupta zu melden. Ich werde sie auch anrufen. Und Andi …«
    Mein Handy klingelt. Hurra. Gerettet. »Entschuldige, Dad«,
sage ich und gehe in die Küche, um den Anruf anzunehmen.
    Â»Hey«, meldete sich eine Stimme. Es ist Vijay.
    Â»Oh, hallo«, antworte ich. Ich hatte gedacht – oder besser
gesagt: verzweifelt gehofft –, es sei Virgil.
    Â»Wow. Freut mich auch, dich zu hören.«
    Â»Tut mir leid, V. Ich bin ein bisschen neben der Spur. Ich
dachte, es wäre jemand anderes.«
    Â»Ã„hm … sag mir doch noch mal, warum ich dein Freund bin?«
    Â»Lass mich überlegen … warte … sorry. Mir fällt gerade nichts
ein.«
    Â»Ha.«
    Â»Warum bist denn schon so früh auf den Beinen? Hier ist
gerade Mittag, also muss es in Brooklyn ungefähr sechs sein.«
    Â»Ich hab soeben mit König Abdullahs Pressebüro telefoniert.
Etwa zum zehnten Mal. Die Pressefritzen haben endlich gesagt, dass ich meine
Arbeit schicken soll und dass sie versuchen

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