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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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beigetragen zu haben. Ich erinnere mich, wie ich in der Schule davon
gehört habe. Sie waren schrecklich gewesen. Nachdem wir einen Teil des Stoffs
durchgenommen hatten, sagte Miss Hammond, unsere Lehrerin, es habe
diesbezüglich viel Meinungsmache gegeben – sowohl zur Zeit des tatsächlichen
Geschehens als auch in späteren Jahren.
    Â»Einige Historiker sehen in den Massakern einen spontanen
Gewaltausbruch, eine schändliche Verirrung, die von Angst und Hysterie
angetrieben wurde. Andere behaupten, das Gemetzel sei geplant und von den
Machthabern gezielt eingesetzt worden, um Paris von Konterrevolutionären zu
befreien.«
    Â»Und was trifft nun zu?«, fragte Arden Tode.
    Â»Sowohl das eine als auch das andere. Beides. Oder nichts von
beidem.«
    Â»Soll das ein Scherz sein?«
    Â»Was ich versuche, Miss Tode, ist, Ihnen begreiflich zu
machen, dass die Antwort vom jeweiligen Standpunkt abhängt. Marie Antoinette
hat die Massaker zweifellos in einem anderen Licht gesehen als, sagen wir, ein
Maurer, der sein Kind hatte Hungers sterben sehen und der erwartete, jeden
Moment von einem preußischen Soldaten getötet zu werden. Für Erstere handelte
es sich um einen Akt abscheulicher Metzelei. Für Zweiteren vielleicht um ein
notwendiges Übel.«
    Â»Ã„hm, kann ich das so in der Abschlussprüfung schreiben?«
    Miss Hammond seufzte. »Geschichte ist ein Rorschach-Test,
Leute«, sagte sie. »Bei der Auseinandersetzung mit ihr erfahrt ihr genauso viel
über euch selbst wie über die Vergangenheit.«
    Ich erinnere mich an Miss Hammonds Worte und denke über Alex
nach. Sie war dabei gewesen. Als aktive Teilnehmerin. Sie hatte die Geschichte
in Großaufnahme und mit eigenen Augen gesehen. Und was sie sah, trieb sie in
den Wahnsinn.
    26. Mai 1795
    Ich sitze heute Abend am Fluss und warte auf die
Dunkelheit. Der Himmel ist klar, und mein Korb mit den Raketen steht neben mir.
    Madame du Barry, eine alte Kurtisane, sitzt bei mir und
hält meine Hände in den ihren. Ich erinnere mich an ihren Tod. Ganz Paris tut
das. Sie schrie sich buchstäblich das Herz aus dem Leib, bis ihr Kopf fiel.
Bitte, beschwatzt sie mich jetzt, denk an Aprikosen, den Duft von Rosen, das
Kribbeln von Champagnerbläschen auf der Zunge.
    Die Toten sind größere Diebe, als ich je einer war. Sie
stehlen mir die kostbarsten Dinge. Das Gefühl von Seide auf der Haut. Das
Geräusch von Regen, der aufs Pflaster trommelt. Den Geruch von Schnee im Wind.
Das alles nehmen sie mir fort und lassen mich mit dem Geschmack von Schmutz und
Asche zurück.
    Ich denke nicht an Aprikosen, sondern an Guillotinen
und Gräber.
    Sie runzelt die Stirn. Dafür brauche ich deine Hilfe
nicht, sagt sie und rauscht davon.
    Ich erzählte Benoît, dass ich sie sehe. Er meinte, das
sei der Beweis, dass ich endgültig verrückt geworden sei, und vielleicht hat er
recht, aber deswegen bin ich den Toten nicht gram. Nicht sie waren es, die mich
in den Wahnsinn getrieben haben.
    Es waren auch nicht die Septembermorde, obwohl sie
sicherlich ihren Anteil daran hatten.
    Es war auch nicht der Tod des Königs auf der
Guillotine. Oder die Nachricht, dass der Herzog von Orléans zu jenen
Abgeordneten gehörte, die dafür gestimmt hatten.
    Es waren auch nicht die Geschichten aus dem Gebiet der
Vendée, wo ganze Städte abgefackelt worden waren und Franzosen auf Franzosen
geschossen hatten. Und auf Frauen. Und Kinder. Oder diese zusammengekettet und
ertränkt hatten.
    Es war auch nicht die Zeit von Robespierres
Terrorregime, als in Paris Tausende hingerichtet wurden und so viel Blut durch
die Straßen floss, dass die Leute darauf ausrutschten, Hunde es aufleckten und
schwarze Wolken von Fliegen darüber herumschwirrten.
    Auch nicht der Moment, als der Herzog von Orléans wegen
Hochverrats verhaftet und eingekerkert wurde.
    Es war der Tag, als sie Louis Charles wegbrachten.
    Seine Gefängniswärter hatten behauptet, sie hätten von
einem Komplott erfahren, den Prinzen und seine Mutter aus dem Temple zu
entführen, woraufhin die Nationalversammlung beschloss, sie nicht mehr
gemeinsam in Haft zu halten, denn so wäre es schwieriger, sie zu befreien. Es
sei an der Zeit, Louis Charles zu lehren, ein guter Republikaner zu werden. An
der Zeit, ihm die Grundsätze der Revolution beizubringen.
    Die Königin kämpfte wie eine Löwin. Sie beschützte
Louis Charles, deckte ihn mit

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