Das Blut der Lilie
und
hoffte, jemand würde mich einlassen, weil ich nicht wusste, ob mich meine FüÃe
den ganzen Weg bis zum Palais zurück tragen würden. Niemand machte auf. Die
anständigen Leute von Paris hielten sich hinter verschlossenen Türen verborgen,
wie anständige Leute es immer tun. Es würde keine Massaker geben ohne die
anständigen Leute.
Ich suchte den Schutz der Dunkelheit, während ich weiterrannte,
und duckte mich in Hauseingänge, wenn ich Stimmen oder Schritte hörte. Im
Palais angekommen, lief ich schwankend die Treppe hinauf und fiel auf mein
Bett. Kurz darauf kam Nicolas, um mich zu holen.
Berichte!, sagte der Herzog von Orléans, als ich in
sein Schlafgemach trat.
Ich tat wie geheiÃen. Mit matter, hohler Stimme
berichtete ich alles, was ich gesehen hatte. Den abgeschlagenen Kopf der
Prinzessin. Den Mob im Temple. Und in La Force.
Es waren so viele Tote, sagte ich. Körper mit
abgehackten Armen und Beinen. Manche ohne Kopf. Körper von Männern, von Frauen,
von einem Knaben. Er kann nicht älter als zwölf gewesen sein.
Der Herzog machte sich zum Ausgehen fertig und kleidete
sich vor dem Spiegel an. Er wählte nicht seinen üblichen prächtigen Aufzug,
sondern ein schlichteres Gewand. Einen grauen Mantel und einen einfachen
Filzhut, wodurch er vollkommen verändert wirkte. Wie ein einfacher Mann, dem
man auf jeder Pariser StraÃe begegnen konnte. Wie ein einfacher Mann, der sich
unbemerkt unter die Leute mischen konnte. Die Hutkrempe warf einen Schatten auf
sein Gesicht und dennoch konnte ich im Spiegel seine Augen sehen, die im
Kerzenlicht glitzerten, dunkler als die Mitternacht.
Und plötzlich stockte mir der Atem.
Ich hatte diesen Mann schon einmal gesehen. In einer
anderen schrecklichen Nacht, in der Nacht, als Versailles gefallen war. Ich
erinnerte mich an einen Mann, der damals mit einem tief in die Stirn gezogenem
Hut durch die Menge gegangen war, Goldmünzen verteilt und die Leute zu
Teufeleien und Mord aufgestachelt hatte. Auch seine Augen waren dunkler als die
Mitternacht gewesen.
Der Herzog von Orléans wandte sich zu mir um. Ach, kleiner
Spatz, sagte er. In welchen Zeiten wir doch leben.
Ich nickte, unfähig zu sprechen.
Ich glaube, Paris ist wahnsinnig geworden.
Ja, flüsterte ich. Das glaube ich auch.
Er trat näher zu mir und reckte den Kopf. Du siehst
aus, als sei dir unwohl, sagte er. Er goss ein Glas Cognac ein und reichte es
mir. Trink das, sagte er. Das wird dir guttun.
Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte,
begannen meine Beine zu zittern. Das Glas fiel mir aus der Hand und zerschellte
auf dem Marmor. Denn jetzt wusste ich, wer uns die Hölle auf Erden bereitet
hatte.
Warum?, flüsterte ich in die Stille der Kammer. Warum?
Wie als Antwort drangen Stimmen auf mich ein. Stimmen
in meinem Kopf. Ich drückte die Hände an die Ohren, konnte die Stimmen aber
nicht zum Schweigen bringen.
Die Stimme von Jean, dem Mörder â Geh zurück zu
deinem Herrn. Sag ihm, wir erledigen unsere Arbeit.
Die meiner GroÃmutter â Eines Tages wirst du mit dem Teufel
spazierengehen, mein Mädchen.
Louis Charlesâ â Mamam mag ihn nicht. Sie sagt, er spielt
den Rebellen, will aber König sein .
Und seine, die Stimme des Herzogs von Orléans â Der Feind
meines Feindes ist mein Freund .
Die ganze Zeit über hatte er mich belogen. Er hatte dem
König nie helfen wollen. Der König war sein Feind, und die Feinde des Königs â
die Revolutionäre â waren seine Freunde. Mit seinem Gold bezahlte er ihre
Demonstrationen und Aufstände. Mit seinem Gold entlohnte er die Greuel, die ich
heute Nacht gesehen hatte.
Ich schlug mir mit den Handballen gegen die Stirn, um
diese Einsicht auszulöschen. Warum?, schrie ich in die Stille seines Gemachs.
Warum, um Himmels willen, warum?
Unbändige Wut packte mich. Ich griff nach einer Kerze
und schleuderte sie an die Wand. Ich zerschlug eine Vase. Fegte Flaschen und
Bürsten von einem Tisch.
Plötzlich spürte ich Hände auf meinen Schultern, hörte
eine laut schreiende Stimme: Hör auf! Hör sofort auf!
Es war Nicolas. Ich schüttelte ihn ab und machte weiter
â zerriss die Kleider des Herzogs, warf mit seinen Juwelen um mich â bis der
alte Mann mir hart ins Gesicht schlug.
Was ist? Was ist passiert?, fragte er.
Er ist es, der Herzog von Orléans, sagte ich. Er ist
der Drahtzieher der
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