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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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it’s okay
    Don’t ever forget
    Where there’s a shill, there’s a way.
    deutsche Übersetzung am Ende des Buchs
    Er verbeugt sich mit weit ausgebreiteten Armen, und das
Publikum tobt. Jules steht hinter ihm. Und ein paar andere Typen. Sie haben
eine Anlage heute Abend – Mikrofone, Verstärker, Gitarren und ein elektrisches
Schlagzeug. Sie sehen mich nicht. Ich bin sehr weit hinten und habe keine
Ahnung, wie ich durch die Menge zur Bühne kommen soll.
    Ich blicke nach rechts und links, um zu sehen, ob ich
irgendwo durchkommen kann. Als ich wieder auf die Bühne blicke, sehe ich
jemanden, den ich zuvor nicht wahrgenommen habe – ein großes, schönes Mädchen
mit dunklem Haar und hellbrauner Haut. Sie steigt hinauf, reicht Virgil ein
Handtuch und ein Glas Wasser. Als sie wieder gehen will, greift Virgil nach
ihrer Hand und zieht sie an sich. Er flüstert ihr etwas ins Ohr und küsst sie
auf die Wange. Sie lacht. Umarmt ihn. Hüpft von der Bühne herunter.
    Wow. Das hat ja nicht lange gedauert. Bestimmt war er völlig
am Boden zerstört, weil es mit mir nicht geklappt hat.
    Ich schlüpfe hinaus. Schnell. Bevor jemand merkt, was für ein
erbärmlicher Trottel ich bin.
    Â Â 55  
    Ich versuche, Norwegian Wood zu spielen. Aber es funktioniert
nicht. Ständig vergreife ich mich bei den Akkorden. Es ist ein schreckliches
Gemurkse. Ich gebe auf und nehme mir Bach vor. Aber auch das läuft nicht gut.
    Ich spiele, um mich davon abzuhalten, über bestimmte Dinge
nachzudenken. Etwa, warum ich geglaubt habe, Virgil hätte keine Freundin? Oder
zwei? Fünf? Ein Dutzend? Er, ein heißer Hip-Hop-Star? Ich dachte, die Sache
zwischen uns sei etwas ganz Besonderes. Aber wahrscheinlich habe ich mich
getäuscht. Gestörtes Urteilsvermögen – eine weitere tolle Nebenwirkung von
Qwellify.
    Ich verpatze die Passacaille. Weil meine Hände zu kalt sind,
rede ich mir ein. Es ist windig hier draußen auf dem Pont Neuf. Schnee liegt in
der Luft. Ein paar Flocken rieseln bereits herab. Aber ich weiß, dass es nicht
an der Kälte liegt, weshalb ich so schlecht spiele. Sondern an den Tabletten.
Nach meinem Ausflug ins Rémy’s habe ich noch ein paar eingeworfen. Und jetzt
bin ich zu langsam und wie betäubt. Ich fühle nichts mehr. Ich weiß, dass es
kalt ist, kann es aber nicht spüren. Ich weiß, dass ich todunglücklich bin,
aber auch das spüre ich nicht.
    Ich bin jetzt weit weg von dem Lokal. Weit weg von G.s Haus.
Nachdem ich Virgil gesehen hatte, wollte ich nicht heimgehen. Lili ist
vielleicht schon wieder von ihrem Essen zurück. Dad aus dem Labor. Und ich will
nicht reden. Nicht mit ihnen. Mit niemandem. Ich will bloß spielen. Und diese
eine Note finden, wie Nathan mir geraten hat.
    Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht. Ich streiche sie
zurück und spüre etwas auf meinen Wangen. Wische es weg. Auf meiner Handfläche
sind winzige Eiskristalle. Tränen wahrscheinlich.
    Mein Handy klingelt. Ich ziehe es heraus und blicke auf die
Nummer. Es ist Virgil. Ich stecke es wieder ein. Er hat mir meinen iPod
zurückgegeben. Sonst brauche ich nichts von ihm. Jungs lassen einen fallen, die
Musik aber lässt einen nie im Stich.
    Ich hole tief Luft und versuche noch einmal die Passacaille,
ohne zu patzen. Eine Note, bloß eine Note. Das ist alles, was ich brauche. Aber
das ist schwer heute Nacht. So schwer, dass ich aufhöre. Und stattdessen in den
Himmel hinaufsehe. Er ist schwarz. Kein Mond. Keine Sterne.
    Hallo, Dunkelheit, alte Freundin.
    Â Â 56  
    Es ist spät, denke ich. Schon Montagnachmittag. Vielleicht
ein oder zwei Uhr. Ich habe lange geschlafen. Es ist still in der Wohnung. Dad
und Lili müssen weggegangen sein.
    Ich öffne die Augen und starre in das graue Licht, das durch
mein Fenster fällt, schließe sie aber sofort wieder, als die Depression in mich
fährt. Sie pirscht sich nicht leise an oder umkreist mich vorsichtig, sondern
startet einen brutalen Frontalangriff. Ich rapple mich hoch und taste nach den
Pillen in meiner Tasche.
    Aber sie sind nicht da. Panik packt mich. Völlig außer mir
drehe ich mich im Kreis, bis ich sie entdecke. Auf meinem Nachttisch. Auf dem
Tagebuch.
    Ich schlucke vier, lege mich zurück ins Bett und zwinge mich,
wieder einzuschlafen. Aber ich kann nicht. Alles, woran ich denken kann, ist
Virgil. Wie konnte ich mich so in ihm täuschen? Ich

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