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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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er zu seinen Kisten zurückgeht, was er aber
    nicht tut. Im Autoradio spielt Coldplay. Er singt »Viva la vida« mit, im Duett mit Chris, es geht um einen König und seine Schlösser, die einstürzen.
    Er wischt sich die Nase an seinem Ärmel ab und sagt: »Könnte
Ludwig XVI . sein, der das singt. Oder vielleicht
bloß sein Kopf. Den sie ihm abgeschlagen haben.«
    Â»Könnte sein«, erwidere ich und gehe ein bisschen auf
Abstand.
    Â»Der Kopf weiß, dass er abgeschlagen wurde. Ein paar Sekunden
lang. Zehn, vielleicht fünfzehn. 1905 hat ein Arzt Experimente gemacht. Gleich
nach der Hinrichtung hat er den Kopf eines Mannes hochgehoben und seinen Namen
gerufen. Die Augen haben geblinzelt. Sie haben den Arzt angesehen. Ihn
erkannt.« Er fuchtelt mit dem Beinknochen durch die Luft, als würde er
trommeln, bis Viva
La Vida zu Ende ist. Dann sagt er: »Paris ist voller Musik und
Geister. Ich kann sie sehen.«
    Ich werfe einen Blick die Gasse hinunter, um sicherzugehen,
dass ich mit diesem irren Grabräuber nicht allein bin.
    Â»Kannst du das auch?«, fragt er.
    Â»Ob ich was kann?«
    Â»Sie sehen?«
    Â»Nein.«
    Â»Sie sind überall. Manchmal wollen sie mein Essen. Manchmal
möchten sie reden. Manchmal sind sie sauer auf mich.«
    Â»Das glaube ich gern. Wahrscheinlich würden sie dir am
liebsten einen Tritt in den Hintern geben. Aber das können sie ja nicht, weil
du ihnen die Beine gestohlen hast.«
    Er lacht. Verputzt seien Gyrosfladen. Zündet sich eine
Zigarette an. »Meine Großmutter war eine Roma. Du weißt schon … eine
Zigeunerin«, sagt er. »Sie hat mir immer gesagt, dass es ein Zeichen ist, wenn
die Toten auftauchen. Ein Zeichen für den Tod.«
    Â»Wow. Wie scharfsinnig.«
    Â»Sie meinte, für den Tod desjenigen, der die Toten sieht. Es
ist eine Warnung. Es bedeutet, dass man ihnen, ihrer Welt, zu nahe gekommen
ist.« Er fängt wieder zu trommeln an. »Tust du es?«, fragt er.
    Â»Was?«
    Â»Sie sehen?«
    Warum fragt er mich das? Ich will schon Nein sagen, als mir
plötzlich der Abend auf der Henry Street einfällt, als ich von der Schule
heimging und Truman sah. Ich erinnere mich an meinen Ausflug in die Katakomben,
als ich glaubte, die Toten würden zu mir sprechen. Trotzdem verneine ich seine
Frage.
    Â»Sie sehen dich«, sagt er. »Sie beobachten. Warten.«
    Â»Uhm«, erwidere ich verunsichert, versuche aber, mir nichts
anmerken zu lassen.
    Ich bin mit dem Schmuck fertig und werfe einen Blick auf den
Rest seines Trödels – vermoderte Taschenbücher, Kaffeebecher, Teller, ein
Pernod-Aschenbecher, alte Pornohefte, schmuddelige Krawattenfliegen, ein Karton
mit alten Weihnachtskarten. Ich bin schon dabei zu gehen, als mein Blick an
etwas hängen bleibt: In einer Kiste neben seinem Kofferraum steht ein kleines
Ölbild. Ein Stillleben.
    Ich nehme es in die Hand. Es ist wirklich alt und wirklich
hübsch. Die Farbe ist gesprungen und der Rahmen angeschlagen. In der Leinwand
ist ein kleiner Riss. Aber das Gemälde selbst ist schön. Es zeigt Birnen,
Kastanien, einen alten Kupfertopf und ein totes Kaninchen. Meiner Mutter würde
es gefallen. Es ähnelt den Bildern, die sie in der Nähe ihrer Staffelei hängen
hat. Zu Hause. Je länger ich das Bild ansehe, desto mehr will ich es für sie
kaufen. Um es ihr morgen in die Klinik mitzubringen und an die Wand ihres
Zimmers zu hängen. Es ist besser als alles, was ich bis jetzt erstanden habe.
Vielleicht wird es ihr helfen. Vielleicht schafft es, was Dr. Beckers Pillen
nie gelingen wird. Vielleicht kann es ein eisernes Band sein.
    Â»Wie viel?«, frage ich ihn.
    Â»Hundert«, sagt er und nimmt einen Zug von seiner Zigarette.
    Ich öffne meine Börse. So viel habe ich nicht. Keine hundert.
Ich habe genügend Geld für ein Taxi zum Flughafen und noch ein paar Zwanziger.
    Â»Wie wär’s mit sechzig?«, frage ich, in der Hoffnung dass er
sich darauf einlässt, weil seine Hände zittern, aber er sagt Nein.
    Â»Ach komm schon, du brauchst es doch.«
    Â»Nicht so sehr wie du«, antwortet er mit Blick auf meine eigenen
zitternden Hände.
    Ich nehme alles Geld, das ich entbehren kann, und lege es auf
sein Autodach. Es sind achtundsechzig Euro und etwas Kleingeld. »Das ist alles,
was ich habe«, sage ich zu ihm.
    Er sieht mich von oben bis unten an und zupft dann an meinem
Gürtel. Er

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