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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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wünschte, ich hätte ihn nie
kennengelernt. Und wir hätten nie diese Telefonate geführt. Dann würde sich
mein Herz jetzt nicht anfühlen, als würde es in Stücke gerissen.
    Es dauert immer eine Weile, bis die Tabletten wirken. Ich
nehme das Tagebuch und fange an zu lesen, weil ich verzweifelt nach Ablenkung
suche.
    27. Mai 1795
    Ich werde den 14. Juli nie vergessen, aber nicht wegen des Falls der Bastille. Der 14. Juli 1793 war der letzte Tag meines Dienstes bei der
königlichen Familie. Man sagte mir, ich würde nicht mehr gebraucht. Der König
war tot, im Januar des neuen Jahres hingerichtet worden. Louis Charles befand
sich in Händen eines Mannes namens Antoine
Simon. Eines Mannes, den die Nationalversammlung ausgewählt hatte. Eines
Mannes aus dem Volk. Eines guten Republikaners. Eines stumpfsinnigen,
bösartigen Trunkenbolds.
    Ich versuchte, mich von der Königin zu verabschieden.
Majestät, sagte ich. Majestät, bitte.
    Aber sie hörte mich nicht. Sie hörte nur ihn, ihr Kind,
das tagelang in seiner neuen Kammer, ein Stockwerk unter ihr, weinte. Sie sprach
nicht. Aß nicht. Sie starrte nur an die Wand und schaukelte hin und her.
    Sie müssen stark sein, sagte Madame Elizabeth zu ihr.
Sie müssen durchhalten. Auch Gott musste die Schreie seines Sohnes anhören, als
dieser am Kreuz hing.
    Sprechen Sie nicht von Gott zu mir, erwiderte die
Königin.
    Das Geräusch einer Ohrfeige war zu hören – hart und
plötzlich –, dann ein Schmerzensschrei, mehr Weinen. Die Königin erhob sich.
Schwankend ging sie durch die Kammer und nahm einen Koffer. Es lag eine Gitarre
darin. Die des Königs. Ich hatte oft für Louis Charles darauf gespielt.
    Nimm sie. Spiel für ihn, sagte die Königin und reichte
mir den Koffer.
    Die Wachen beobachteten uns.
    Aber Majestät, niemandem ist erlaubt, ihn zu besuchen,
antwortete ich.
    Sperr auf und spiel, sagte sie. Du musst den Schlüssel
ein Mal drehen, um den Koffer aufzusperren.
    Doch in dem Moment, als sie »ein Mal« sagte, hob sie
drei Finger in die Höhe, und zwar so, dass die Wachen es nicht sehen konnten.
    Ich kann nicht, sagte ich.
    Sie begann zu weinen. Bitte, schluchzte sie. Spiel für
ihn. Sorg dafür, dass sein armes Herz fröhlich bleibt. Dann sank sie zu Boden,
schlang wehklagend die Arme um die Knie.
    Nimm sie!, bellte der Wachhabende. Nimm sie, damit das
Geschrei aufhört!
    Er war ein anständiger Mann, selbst ein Vater, und
wollte freundlich sein, aber er hatte Angst. Das konnte ich in seinen Augen
sehen. Wir alle hatten Angst. Wir alle hatten die Schinderkarren gesehen.
    Ich tat, wie befohlen. Draußen im Gang öffnete er den
Koffer. Mit einem Messer schnitt er die Gitarrensaiten durch und tastete das
Innere des Koffers ab. Dann riss er das Futter heraus und suchte nach
Geheimbotschaften. Erst als er sicher war, dass die Königin nichts darin
versteckt hatte, durfte ich die Gitarre nehmen.
    Später in meiner Kammer entdeckte ich, was ich finden
sollte. Ich drehte den Schlüssel drei Mal, weil die Königin drei Finger
hochgehalten hatte, und fand ein Geheimfach. Darin befanden sich ein Bild von
Louis Charles – eine Miniatur auf Elfenbein gemalt – und ein Beutel mit Münzen.
Zwanzig Goldstücke. Zorn packte mich.
    Warum hatte sie mir dieses Gold gegeben, verdammt? Was
sollte ich damit machen? Ich war kein Marquis mit einer Armee, sondern nur ein
unbedeutender, machtloser Mensch.
    Doch der Zorn ebbte bald ab und Traurigkeit trat an
seine Stelle, denn ich erkannte, wie verzweifelt sie gewesen sein musste, mir
das Leben ihres Sohnes anzuvertrauen. Ausgerechnet mir. Ich war kein Kaiser.
Kein König. Bloß eine kleine Dienerin. Auf mir ruhte all ihre Hoffnung. Ihre
letzte Hoffnung. Ich war die einzige Chance, die ihr kleiner Sohn hatte. Das
Porträt, das Geld – sie waren der Appell, ihn nicht im Stich zu lassen.
    Ich hielt die glänzenden Münzen in der Hand und ließ
sie durch die Finger gleiten. In mir tobte ein Kampf. Mit zwanzig Louis d’or
konnte ich davonlaufen. Fort aus Paris, weg von Tod und Elend. Ich konnte in
einer anderen Stadt von vorn anfangen. Es vielleicht auf die Bühne schaffen.
Hatte ich mir das nicht immer gewünscht?
    Andererseits wäre es mir mit zwanzig Louis d’or
vielleicht auch möglich, dem Dauphin zu helfen. Ich könnte Simon bestechen, ihn
gut zu behandeln, ihm Spielzeug und Bücher

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